Die Bibel für Eilige
verstehen, werden wir nicht Bilder, Gleichnisse und Sagen
brauchen. Aber: Wir leben in der Zeit – und wir brauchen sie, die Um-Schreibungen. Und doch bleibt da eine Sehnsucht, ganz
zu verstehen, wo das zu Verstehende und der Verstehende eins werden. »Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunklen
Wort; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich’s stückweise; dann aber |48| werde ich erkennen, gleichwie ich erkannt bin.« (1. Korinther 13, 12)
Homo sapiens = homo quaerens – das fragende Wesen, das infrage stehende Wesen, das gefragte Wesen, Antwort suchend, Antwort
gebend, Antwort verweigernd.
Wohin gehen wir, wenn wir gehen? Und wer sind wir, wenn wir nicht mehr sind? Und woher sind wir gekommen? Und warum? Und warum
sind wir uns so fremd – untereinander fremd? Und machen uns andere zu Fremden?
»Die Bibel ist ein sehr großer, weiter Wald, darin viel und allerlei Bäume stehen, davon ich kann viel und vielerlei Obst
und Früchte brechen; aber es ist kein Baum in diesem Walde, daran ich nicht geklopft und ein paar Äpfel und Birnen davon gebrochen
und abgeschüttelt habe.« So Martin Luther. Schütteln muss man. Sehen. Spüren. Hören. Das Einzelne wahrnehmen. Und das Ganze.
Das Viele und das Eine.
Biblos. Bibel. Buch. Buch der Bücher. Das Wort in den Worten. Mündlich Überliefertes. Und nun haben Sie es schriftlich!
Verdichtete Erfahrung. Schatz von Jahrhunderten, von Mund zu Mund weitergegeben. Wort für Wort – genau. Erzählstränge zusammengeflochten.
Traditionsschichten nebeneinander gestellt und miteinander verwoben. Das Vielgestaltige soll als ein Guss erscheinen. Was
gleichzeitig geschieht, wird als eine Aufeinanderfolge dargestellt. Welt- und Menschengeschichte läuft vor uns ab – exemplarisch,
mit Widersprüchen und widersprüchlich.
Alle literarischen Formen sind versammelt: Der Bericht. Die Sage. Der Mythos. Das Gedicht. Der Weisheitsspruch. Die Novelle.
Die Parabel. Der Brief. Die Statistik. Die Kriegsberichterstattung. Die Heldensage. Das Siegeslied. Das Liebeslied. Der Jammergesang.
Das Heldenepos. Der Kriminalbericht. Die Geheimdienstgeschichte. Der Gesetzestext. Die Liebesgeschichte. Die Verteidigungsrede.
Das Gebet und das Glaubensbekenntnis. Der Freuden- und der |49| Schmerzensschrei. Die Legende. Das Märchen. Schimpfreden, Fluchkanonaden. Hymnen und Klagelieder.
»Verflucht sei, wer seines Nächsten Grenze verrückt! Und alles Volk soll sagen: Amen. Verflucht sei, wer das Recht des Fremdlings,
des Waisen und der Witwe beugt. Und alles Volk soll sagen: Amen.« (5. Mose 27, 17–19)
Lesen Sie! – zu Hause! – laut! 5. Mose 5, 11–26 und 28,1– 44.
Durchgängig
ein
Gedanke: Menschliches Tun und sein Ergehen hängen zusammen. Gottlos leben ist verantwortungslos und verantwortungslos leben
gottlos. Das »Jüngste Gericht« findet schon statt, täglich.
Im Ganzen ist die Bibel eine Tendenzschrift. Aber sie ist nicht einlinig, weil das »Buch der Bücher« ein Buch aus Büchern
ist, mit je eigener Tendenz. Überall verdichtete Näherung an das Nichtsagbare. Schließlich geht es um Gott und die Welt.
Der Unsagbare, der Unnennbare, das Geheimnis der Welt schlechthin, scheint überall durch, entzieht sich überall dem Zugriff.
Der Unsagbare – GOTT – jetzt als geschriebenes und dennoch von den frommen Juden nie ausgesprochenes Subjekt. Was benannt
wird, ist umgrenzt, definiert, wird beherrschbar. Deshalb wird der Name des Gottes umschrieben – nie benannt. Umschreibungen
nur. Um IHN und um die Welt geht es. Um mich. Und um alle.
Der laxe Umgang mit dem Worte »Gott« in unserer Sprache rächt sich; es ist kein Zittern in der Stimme, kein Beben des Herzens,
kein Flackern in den Augen, kein Sturm im Kopf. Anders dort, wo ER mit dem personalen »Du« angesprochen wird, aber doch das
DU schlechthin ist, in Ehrfurcht und Vertrautheit.
Das gesprochene, von Mund zu Mund, jahrhundertelang überlieferte Wort wird Buchstabe, Buchrolle. Toter Buchstabe wird aus
dem lebendigen Wort.
|50| Sprechen erweckt ihn wieder zum Leben. Was geschrieben ist, muss gesprochen und zugesprochen werden. Einer muss wieder »zum
Mund« werden. Was einmal geschehen ist, geschieht: Jetzt! Hier! Mit dir!
Ewiges Missverständnis des Vergangenen: »Es war einmal.« Erinnerung lässt das Erinnerte gegenwärtig werden! Die Schrift kommt
zum Ziel, wo wir gleichzeitig werden mit dem, was aus einem Einst auf uns kommt, in uns kommt. Über
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