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Die Bibel für Eilige

Titel: Die Bibel für Eilige Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Schorlemmer
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heißt es in 5.
     Mose 26, 5–11:
    »Da sollst du antworten und sagen vor dem Herrn, deinem Gott: Mein Vater war ein Aramäer und nahe dem Umkommen und zog hinab
     nach Ägypten und war daselbst ein Fremdling mit geringem Volk und ward daselbst ein großes, starkes und zahlreiches Volk.
     Aber die Ägypter behandelten uns übel und zwangen uns und legten einen harten Dienst auf uns. Da schrieen wir zu dem Herrn,
     dem Gott unsrer Väter; und der Herr erhörte unser Schreien und sah unser Elend, unsre Angst und Not und führte uns aus Ägypten
     mit mächtiger Hand und ausgestrecktem Arm und mit großem Schrecken, durch Zeichen und Wunder und brachte uns an diesen Ort
     und gab uns dies Land, darin Mich und Honig fließt.«
    Dieser Abschnitt enthält eine Herkunfts-, eine Bedrückungs- und eine Befreiungserinnerung – und schließlich eine erfüllte
     Landverheißung. Wir sind nicht mehr umherirrende Aramäer, sondern finden im eigenen Lande Ruhe. Der Text setzt wie selbstverständlich
     ein:
Mein
Vater war ein umherirrender Aramäer.
    Hier zeigt sich das eigentliche hermeneutische Grundprinzip: Es wird nicht Vergangenes als Vergangenes erzählt, sondern in
     der Form »Vergegenkunft«, wie ein Theologe die drei Zeitformen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in ein Wort zu bringen
     versucht hat. Dies bedeutet nichts anderes als Gleichzeitig-Werden mit dem, was erzählt wird. Deswegen muss so erzählt werden,
     dass man mit dem Erzählten gleichzeitig werden kann. Lebendig, anschaulich, kraft- und poesievoll.
    |63| In einer der chassidischen Legenden heißt es, dass der Rabbi der Gemeinde die Geschichte vom Durchzug durch das Rote Meer
     so erzählte, dass sie aufstanden, im Kreise umhergingen und ihre Gewänder rafften – wegen des nachfließenden Wassers vom Roten
     Meer.
    Grundthemen in der Vätergeschichte sind die Grundthemen des Menschseins: das Mutter-Sohn-, das Mann-Frau-, das Vater-Sohn-Verhältnis.
     Man denke an die Rolle der Rebekka bei der Segenserschleichung für das Muttersöhnchen Jakob oder an die Rolle der Batseba
     bei der Inthronisation Salomos und bei der Ausschaltung aller anderen Rivalen, der Halbbrüder. Es geht um Frauen- und um Männereifersucht,
     um Ressourcen- und Revierstreit, um den Machtkampf zwischen Gott und Mensch, die Vergottung des Menschen und die Instrumentalisierung
     »Gottes« durch Götzen, um Autoritäts- und Legitimationsfragen, um Machtgebaren, um Machtverlust, um nomadisches und sesshaftes
     Dasein, um Sklaverei und Befreiung, Kollaboration und Mut, Erbstreit und Erbbetrug, Inzestfantasien und Inzestbetrug, um das
     Wahrsagen und Die-Wahrheit-Sagen, um den Umgang mit Katastrophen, um Geld und Geltung, Hunger und Überfluss, Schuldverstrickung
     und Rachedurst, Korruption und Verschleierung, Großherzigkeit und Engherzigkeit, um das Leben in der Fremde und um das Finden
     der Heimat, um erfahrene Gastfreundschaft und um Gastfeindschaft.
    Versöhnlich, ganz und gar versöhnlich schließt die von tiefen Beziehungskonflikten durchzogene Vätergeschichte ab; Joseph
     auf die flehende Bitte seiner Brüder hin, ihnen doch zu vergeben, antwortet: »Fürchtet euch nicht! Stehe ich denn an Gottes
     statt? Ihr gedachtet’s böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen.« (Genesis 50, 19–20)
    (Vergleiche Genesis 50, 15–21, mit Thomas Mann, Joseph und seine Brüder, Bd. 3, S. 554–555.)
    |64| Alles, was du über den Menschen – über dich! – wissen solltest, hier findest du es. Alles. Du musst nur lesen und verstehen.
     Unsere Schwierigkeiten mit diesen alten großartigen Texten haben eine lange Geschichte, denn seit Aristoteles (384–322 v.
     Chr.) wird in der europäischen Tradition der Logos hoch und der Mythos minder geachtet. Der Begriff steht gegen die Geschichte,
     das Wort gegen die Erzählung, das schlüssige Argument gegen die widersprüchliche Parabel, das philosophische System gegen
     das »Theater des Lebens«, die theologischen Gebäude gegen die biblische Erzählung. Damit wird der Widerspruch aus den Dingen,
     die Fantasie aus dem Denken genommen; die Vielfalt weicht der Einheit, die Eindeutigkeit wird autoritär hergestellt und die
     Macht der Zentralen abgesichert. Und entsprechend verfuhr die Theologie: Sie destillierte das Dogma aus den lebensprallen,
     hintergründig-bildhaften Texten, die mit Jahrhunderterfahrung angereichert sind. Das Dogma brachte zusammen, was nicht zusammengehört.
     Man stellte Systeme auf, Konstrukte, die eine

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