Die Bibel für Eilige
haben mich umgeben,
und der Bösen Rotte hat mich umringt;
sie haben meine Hände und Füße durchgraben.
Ich kann alle meine Knochen zählen;
sie aber schauen zu und sehen auf mich herab.
Sie teilen meine Kleider unter sich
und werfen das Los um mein Gewand.
Aber du, HERR, sei nicht ferne;
meine Stärke, eile, mir zu helfen!
Errette meine Seele vom Schwert,
mein Leben von den Hunden!
Hilf mir aus dem Rachen des Löwen
und vor den Hörnern wilder Stiere –
du hast mich erhört!
(Psalm 22,13–22)
Wie ließe sich das Elend an Leib und Seele zutreffender und treffender beschreiben als in diesen Bildern? »Das Leid ist der
Stachel des Atheismus«, schrieb Georg Büchner. Und dann kommt es zur Wende; weil der Mensch dies alles aussprechen kann, weil
er eine Adresse hat, erlebt er den unerwarteten inneren Durchbruch: Du hast mich erhört. Durch Leiden hindurch, aus dem Leiden
heraus findet der Beter dadurch, dass er IHM und sich, sich und IHM nichts verschweigt.
|133| Motive dieses Psalms wurden in den Kreuzigungsberichten aufgegriffen. Das »Eli, Eli lama asabtani?«, die durchbohrten Hände
und Füße am Kreuz, das Würfeln um das Gewand. Dass der Himmel leer ist und Leid, Sinnlosigkeit und Verzweifelung ohne Adresse
sind, bringt der Dichter Dámaso Alonso so ins Bild:
Mensch,
trübsinniger Schrei,
o einsamer und trister
Schwätzer: Sagst du etwas? Hast du etwas
zu sagen? den Menschen oder den Himmeln?
Und ist nicht diese Bitternis
deines Schreis der lastende Alpdruck
des ewigen Monologs, des antwortlosen?
Alonso endet trost-los. Warum? Weil er keinen Dialogpartner findet. Also bleibt er antwortlos.
Ernst Eggimann hingegen sucht eine Richtung:
weil ich dich loben muss
wen loben muss
loben mit welchen worten
wende ich mein gesicht in irgendeiner richtung
wo die autobahn hervorschießt mir entgegen
mekka
wo der ameisenhaufen im benachbarten walde
sonnenaufgang
wo die atombomben gestapelt
golgatha
wo der irre über dich briefe versendet
ganges
|134| wo die kinderschuhe das frauenhaar und die judenasche
jerusalem
wo immer du bist wende ich mein gesicht hin
weil ich dich loben muss wen loben
weil du mir fehlst
überall fehlst bist du überall
und ich rufe laut deinen namen weiter
als das endliche sich ständig ausdehnende gekrümmte all 2
Die von starken Bildern überquellenden Psalmen lassen sich verstehen, ohne dass man die historischen Einzelheiten kennt. Aber
wenn man um die Einzelheiten weiß, erschließt sich noch mehr. Ein Beispiel: Ohne je in Babylon gefangen gewesen zu sein, kann
die Seele nachvollziehen, worum es geht. Der Zauber der Worte kann auf eine erlösende Weise einen Menschen ergreifen. 2000
Kilometer von Jerusalem entfernt, 40 Jahre lang ghettoisiert lebt die Oberschicht Jerusalems – während Jerusalem zerstört,
entweiht ist: eine Trümmerwüste der Hoffnungslosigkeit. Die Babylonier zwingen die Exilierten zu singen, während sie weinen.
Denn die uns gefangen hielten,
hießen uns dort singen
und in unserm Heulen fröhlich sein:
»Singt uns ein Lied von Zion!«
(Psalm 137,3)
Welch letzte Schmach, welch letzter Hohn.
(Ihre Musik hören sie gern, diese verrohten KZ-Wächter, diese jiddischen Lieder, diese traurige Poesie, diesen hintergründigen
Humor, diese unverwechselbare Innigkeit mit betörender Lebensfreude.)
40 Jahre Verbannung – und ein neuer Herrscher kommt. Und die Gefangenen sollten freikommen. Es ist nicht zu |135| glauben, man kann es nicht glauben, nach 40 Jahren »spes contra spem«.
Und so finden sich in Psalm 126 die Zeilen:
Wenn der HERR die Gefangenen Zions erlösen wird,
so werden wir sein wie die Träumenden.
Dann wird unser Mund voll Lachens und unsre Zunge voll Rühmens sein.
Dann wird man sagen unter den Heiden:
Der HERR hat Großes an ihnen getan!
Wenn das Wunderbare geschehen wird, dann wird das Lachen von innen und außen kommen, und die anderen – gerade die Unterdrücker
– werden sagen, dass Gott sie erlöst hat.
Nun setzt der Psalm auf eine andere, zweite Zeitebene und beschreibt den Vorgang als einen im Moment geschehenen.
Der HERR
hat
Großes an uns getan;
des sind wir fröhlich.
(Psalm 126,3)
Also, das Große ist geschehen, sie sehen es als SEINE Führung und Fügung an und sind einfach fröhlich. Vergessen sind alle
Tränen, alle Erniedrigung, alle Beleidigung, alle Sehnsucht, alle Verzweiflung.
Dann kommt in Vers 4 eine ganz andere Perspektive hinzu. Nun
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