Die Bibel für Eilige
Tun-
und Ergehens-Zusammenhang,
dass Gott hört, zuhört, dass er sich bewegen lässt und selber bewegt ist,
dass es Vergebung gibt, und weil es Vergebung gibt, gibt es auch glaubwürdigen Neuanfang: »Lobe den Herrn, meine Seele, und
vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat.«
»So fern der Morgen ist vom Abend, so lässt er unsere Übertretungen von uns sein. So hoch der Himmel über der Erde ist, lässt
er seine Gnade walten über denen, die ihn fürchten.« (Psalm 103, 11–12)
Und zugleich jenes schroffe, schier unüberbrückbare Nebeneinander von Psalm 22 und 23.
Psalm 22,1:
Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?
Ich schreie, aber meine Hilfe ist ferne.
Und Psalm 23,1:
Der Herr ist mein Hirte,
mir wird nichts mangeln.
|130| Kaum ein Text der christlich-abendländischen Geschichte ist so voller Trost und erreicht in seinem Bildreichtum so das Unterbewusste.
Die Verse dieses Psalms haben ihre Tragfähigkeit in Jahrhunderten erwiesen. Auch wenn man keine existenzielle Erfahrung mit
dem Hirtendasein hat, so gibt es doch eine Ursehnsucht und eine Urerfahrung von Behütung. Der Hirte ist der Behüter des Lebensweges.
(Auch die Frage an Kain nach seinem toten Bruder Abel, der ein Hirte war, heißt eigentlich: Soll ich meines Bruders Hirte/Hüter
sein?)
Gott selbst wird als der bezeichnet, der durch die Höhen und Tiefen des Lebens, durch die Genuss- und die Durststrecken, durch
Licht und Finsternis, durch Angst und Glück hindurchführt. Der Psalm verdichtet dies in poetischen Bildern hoher Faszinationskraft.
Dieser Psalm verschweigt (sich) nichts. Es geht um das Geführtsein auch
durch
die Finsternis, nicht um die Bewahrung
vor
der Finsternis, sondern die Bewahrung
in
ihr. Der »Stab« und der »Stecken« deuten das Beschützen und das Zurückdrängen, den Angriff und die Abwehr an. Tisch, Öl und
Wein: ein Festmahl. Und der Feind schaut von ferne zu. Nicht der Verfolger ist ihm auf dem Fuße, sondern Gutes und Barmherzigkeit
folgen
mir und gehen mir
voran
. Und ich bleibe in Gott zu Hause. Immerdar. Keine Interpretation vermag einzufangen, was den Zauber dieser Zeilen ausmacht.
Alles, was wir heute leib-seelische Einheit nennen – die Urängste und die konkrete Furcht, den Hunger der Seele und den Hunger
des Geistes, Orientierung und Orientierungslosigkeit, Tröstung und Trostlosigkeit – sind in sechs Versen eingefangen. Die
Seele wird so erquickt, wie der Körper erquickt wird vom frischen Wasser. Der Lebensweg ist eine Straße mit einem Ziel, keine
Sackgasse. Mitten in der Finsternis ist nicht die Angst der Begleiter, sondern die Zuversicht
.
Und dem Vergehenden wird nicht versprochen, dass |131| er nicht vergehen würde, sondern dass »der Bleibende« bei ihm bleibt. Und: Es ist der Einzelne und die Einzelne, nicht die
Herde, das Kollektiv, die Volks-Gemeinschaft, »die Kirche«; Glaube bewährt sich am Einzelnen und im Einzelnen. Im Letzten
kann uns niemand etwas abnehmen. Auf dein eigenes Zeugnis kommt es an.
So wie der Psalm 23 Bilder findet für Vertrauen und Zuversicht, so findet der Psalm 22 Bilder letzter Angst und Verlorenheit.
Abgründe klaffen auf.
Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?
Ich schreie, aber meine Hilfe ist ferne.
Mein Gott, des Tages rufe ich, doch antwortest du nicht,
und des Nachts, doch finde ich keine Ruhe.
[…]
Unsere Väter hofften auf dich;
und da sie hofften, halfst du ihnen heraus.
Zu dir schrien sie und wurden errettet,
sie hofften auf dich und wurden nicht zuschanden.
Ich aber bin ein Wurm und kein Mensch,
ein Spott der Leute und verachtet vom Volke.
Alle, die mich sehen, verspotten mich,
sperren das Maul auf und schütteln den Kopf:
»Er klage es dem HERRN, der helfe ihm heraus
und rette ihn, hat er Gefallen an ihm.«
(Psalm 22,2–9)
Auf dich bin ich geworfen von Mutterleib an,
du bist mein Gott von meiner Mutter Schoß an.
Sei nicht ferne von mir, denn Angst ist nahe;
denn es ist hier kein Helfer.
(Psalm 22,11.12)
Gewaltige Stiere haben mich umgeben,
mächtige Büffel haben mich umringt.
|132| Ihren Rachen sperren sie gegen mich auf
wie ein brüllender und reißender Löwe.
Ich bin ausgeschüttet wie Wasser,
alle meine Knochen haben sich voneinander gelöst;
mein Herz ist in meinem Leibe
wie zerschmolzenes Wachs.
Meine Kräfte sind vertrocknet wie eine Scherbe,
und meine Zunge klebt mir am Gaumen,
und du legst mich in des Todes Staub.
Denn Hunde
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