Die Bibel für Eilige
andere Frage, eine andere Antwort, eine andere Einstellung, ein anderes Verhalten, eine Spielunterbrechung
und ein neues Spiel kann beginnen. Ein Gedicht gegen die Endgültigkeit. Die Trauer um Abel wird zur Sorge um Kain und zum
Anruf an Abel. Dieser Anruf verlangt Un-Mögliches. Aufstehen aus dem Tod, Aufstand machen gegen den Tod, sich aufmachen gegen
das Töten. Auf das Opfer kommt es an, darauf, nicht Opfer zu
bleiben
. Kain nicht auf sein Tötenmüssen festlegen, Abel nicht auf die passive Opferrolle.
|207| Kain und Abel, das erste Bruderpaar, der erste Brudermord, Schlüsselgeschichte für unsere Tragik schlechthin. Die Differenz
der Lebensentscheidung entfremdet sie. Ihre Produktionsweise prägt ihre Lebensweise, wie ihr Verhalten zur Natur ein mitgeschöpfliches
oder ein Herrschafts-Verhalten wird. Der eine ein Nomade, der andere ein Ackerbauer, der dann Städtebauer wird. Der eine folgt
der Natur, der andere beherrscht sie. Der eine setzt sich fest und grenzt sich ab. Der andere ist unterwegs und respektiert
keine Grenzen. Der eine verfinstert sich. Der andere ahnt nichts. Der eine wird von Arglist beherrscht. Der andere bleibt
arglos. Vertrauen wird missbraucht. Der Mord ist schon geschehen, bevor Abel getötet ist. Kain verfinstert seinen Blick, senkt
den Kopf, sieht ihn nicht mehr an, den Bruder, räumt ihn kurzerhand aus dem Wege, wird gefragt: »Wo ist dein Bruder, Abel?«
Darauf nicht antwortend, weist er Verantwortung ab, stellt die Gegenfrage: »Soll ich meines Bruders Hüter sein?« Ich bin nicht
sein Hüter – der erste Zynismus, da er genau weiß, dass er längst tot ist. Und mörderische Frechheit: Er, Abel, ist doch von
Beruf ein Hüter, ein Hirte, wie sollte er einen Hüter brauchen?!
»Wo er ist, musst du mich nicht fragen. Er soll doch selber sehen, wo er bleibt, geblieben ist.« Der erste Zynismus – letzter
Zynismus. Das Blut schreit, die Erde schreit. Es gibt keinen Rückweg.
Aber da sagt sie, Hilde Domin, ein Kind Abels, in den Knochen die Furcht, auf der Zunge die Hoffnung und den Widerstand des
kleinen, großen DENNOCH:
Abel, steh auf
es muß neu gespielt werden
Abel steh auf, sagt sie, als ob das leicht wäre! Es
muß
neu gespielt werden, damit neu gespielt werden
kann
. Nicht damals: heute. Nicht manchmal: täglich. Wir sind nicht festgelegt. Vor
uns
liegt mitten in allen Zwängen eine Entscheidung, |208| nicht der Wiederholungszwang. Das Spiel ist nicht aus, wenn Abel aufsteht. Was Gesetzbücher regeln, was Religionen einschärfen,
würde entbehrlich, wenn Abel aufstünde und es rückgängig machen würde, was den Kreislauf von Tat und Rache ausgelöst hat.
Wo das Opfer dem Täter ermöglicht, nicht mehr Täter zu sein, lässt es ihm eine Wahl, obwohl doch schon alles verloren war.
Das Spiel beginnt neu. Kain kann neu spielen, indem er eine andere Frage stellt, eine andere Antwort gibt.
Die Handlung kommt aus einer Haltung. Wo die Haltung sich ändert, unterbleibt die tödliche Handlung. »Ich bin Hüter, Helfer«:
Menschsein ist Mitmenschsein. Sorge wird zur Fürsorge, Gefühl zum Mitgefühl. Ethik ist da nicht mehr Grenzziehung gegen das
Negative, sondern Position, aktive Vorsorge und Fürsorge. Es heißt nicht mehr: Was ist verboten?, sondern: Wo kann ich dem
anderen der Helfer sein? Das ist hilfreiche Prävention. (Wie verdreht wird der Ursprungssinn, wo Präventivkriege dazu dienen
sollen, Kriege zu verhindern, indem sie »vorsorglich« geführt werden.)
Nicht nur nicht töten, sondern sorgen, dass der andere leben kann.
So leben, dass Hilde Domin nicht wieder Angst haben muss, in unserem Land, unter uns, die große, kleine Schwester, deren Lebensmotto
das DENNOCH ist.
(Vergleiche Genesis 4,1–16)
Noah und die Arche
Die rührende und anrührende Geschichte von Noah und der Arche hat die Menschheit immer wieder zu vielen Fantasien und Allegorien
angeregt.
Bald nach der Schöpfung vergeht Gott die Lust an seiner Tat. Er sieht, wie alles Dichten und Trachten der Menschen |209| böse ist, immerfort. Gott reut es. Er möchte die Schöpfung zurückdrehen, alles ungeschehen machen. Missglücktes Experiment.
Die ersten Freigelassenen der Schöpfung erweisen sich als Fehlkonstruktion, die gegen die Schöpfung und gegen den Schöpfer
leben, ja meinen, ohne Schöpfung und Schöpfer leben zu können. Sie beuten aus, sie vernichten sie und sich selbst. Sie treten
das, was sie dankbar empfangen könnten, mit Füßen. Das
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