Die Bibel für Eilige
Jesu. Ihm war das Faktum der Menschwerdung, das Faktum der Kreuzigung
und der Glaube an die Auferstehung das Entscheidende. Er hört die Stimme des erhöhten Christus, nicht die Stimme eines durch
die Lande ziehenden Wanderpredigers und Rabbis. Die konkrete Geschichte und die einzelnen Geschichten interessieren ihn nicht
– oder wenig. Er schaut nicht zurück auf das Leben Jesu, seine Lehrpredigten und Wundertaten, sondern er erwartet die Wiederkunft
des von Gott zu neuem Leben Erweckten – und dies bald. Nur aus diesem Grunde akzeptiert er auch die römische Macht, ja, er
rät den Sklaven, in ihrem Stande zu bleiben, denn diese Welt vergeht:
»Die Nacht ist vorgerückt, der Tag aber nahe herbeigekommen. So lasst uns ablegen die Werke der Finsternis und anlegen die
Waffen des Lichts. Lasst uns ehrbar leben wie am Tage, nicht in Fressen und Saufen […]
Den Schwachen im Glauben nehmt an und streitet nicht über Meinungen. […]
Ein jeder sei in seiner Meinung gewiss.
Denn das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken, sondern Gerechtigkeit und Friede und Freude in dem heiligen Geist.«
(Römer 13,12ff.; 14,1.5b.17)
|197| Als er gefoltert wird, beruft er sich darauf, dass er römischer Bürger sei, also auch nicht ohne Urteil festgehalten werden
dürfe. Er besteht darauf, dass er das Bürgerrecht nicht gekauft habe, sondern römisch geboren sei. Er beruft sich also auf
das weltliche Recht vor den Römern und wird wie Jesus wiederum vor den Hohen Rat gestellt. Und er wehrt sich (in der Überlieferung
des Lukas) mit folgenden Worten:
»Ihr Männer, liebe Brüder, ich habe mein Leben mit gutem Gewissen vor Gott geführt, bis auf diesen Tag.
Der Hohepriester Ananias aber befahl denen, die um ihn standen, ihn auf den Mund zu schlagen. Da sprach Paulus zu ihm: Gott
wird dich schlagen, du getünchte Wand! Sitzt du da und richtest mich nach dem Gesetz und lässt mich schlagen gegen das Gesetz?«
(Apostelgeschichte 23,1–3)
Und dann nutzt er eine List, indem er einen heftigen innerjüdischen Streit auslöst. Er bekennt sich selbst als Pharisäer (die
an die Möglichkeit der Auferstehung glauben) und bringt die Sadduzäer auf (die das bestreiten). Schon gibt’s Tumult. Der römische
Statthalter fürchtet größeren Aufruhr – und bringt ihn in Gewahrsam.
Paulus kennt sich aus im römischen Recht und in der Rechtsprechung der Juden. Und er macht sie sich alle zu Feinden – weil
er sie auf den Bruch ihrer eigenen Gesetze hinweist. Da wird Paulus dann ganz auf sich gestellt – ist ganz allein. Aber Lukas
erzählt:
»In der folgenden Nacht aber stand der Herr bei ihm und sprach: Sei getrost! denn wie du für mich in Jerusalem Zeuge warst,
so musst du auch in Rom Zeuge sein.« (Apostelge schichte 23,11)
Das ist es: nicht nur in der römischen Provinz Palästina, im Zentrum der Macht ZEUGE sein!
Im Wort und im Leben will Paulus ein Zeuge sein, der sich bewährt und der weiß, dass er bewahrt wird, auch im Leiden. |198| SEINE Kraft ist in den Schwachen mächtig. Und wenn es ums Rühmen geht, so rühmt er sich nicht seines Mutes, sondern er rühmt
sich seiner Schwachheit. Er kehrt nichts Heldisches heraus, sondern er bewährt seinen Glauben – nicht mehr und nicht weniger.
Nicht weniger –
mehr
!
Einer der wenigen deutschen Professoren, die 1933 den »Eid auf den Führer« verweigerten und relegiert wurden, der Theologe
der so genannten Bekennenden Kirche Karl Barth, schrieb im Vorwort zu seinem Römerbrief im August 1918:
»Paulus hat als Sohn
seiner Zeit
zu seinen Zeitgenossen geredet. Aber
viel
wichtiger als diese Wahrheit ist die andere, dass er als Prophet und Apostel des Gottesreiches zu
allen
Menschen
aller
Zeiten redet.
Was einmal ernst gewesen ist, dass ist es auch noch heute. Und was heute ernst ist und nicht bloß Zufall und Schrulle, das
steht auch in unmittelbarem Zusammenhang mit dem, was einst ernst gewesen ist. Unsere Fragen sind, wenn wir uns selber recht
verstehen, die Fragen des Paulus und des Paulus Antworten müssen, wenn ihr Licht uns leuchtet, unsere Antworten sein.«
Geschichtsverständnis ist ein fortgesetztes, immer aufrichtigeres und eindringenderes Gespräch zwischen der Weisheit von gestern
und der Weisheit von morgen, die eine und dieselbe ist.
Bei Paulus heißt es: »Ich ermahne euch nun, liebe Brüder, durch die Barmherzigkeit Gottes […] stellt euch nicht dieser Welt
gleich, sondern ändert euch durch die Erneuerung eures Sinnes
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