Die Bibel für Eilige
[…]«(Römer 12,1–2)
Karl Barth schreibt dazu unter der Überschrift: »Die große Störung«
»Denn das Leben ist nun einmal nicht einfach, nicht direkt, nicht eindeutig. Einfach, direkt und eindeutig ist immer nur die
Oberfläche einzelner Erscheinungen, nie und |199| nirgends aber ihre Tiefe, ihr Zusammenhang, die Krisis, in der sich alles Erscheinende befindet, die Realität, von der es
Zeugnis gibt. Gerade als dialektisches Denken erfüllt also das Denken seinen Zweck als Frage nach Tiefe, Zusammenhang und
Realität des Lebens, seinen Zweck, Besinnung auf den Sinn des Lebens herbeizuführen, Sinngebung an das Leben zu ermöglichen.
Wären seine Wege direkter,
weniger
gebrochen,
leichter
übersichtlich, so wäre das das sicherste Zeichen dafür, dass sie am Leben, das heißt aber an der Krisis, in der sich dieses
Leben befindet, vorbeigehen. Doktrinär ist nicht das so genannte ›komplizierte‹, sondern das viel gerühmte ›einfache‹ Denken,
das immer schon zu wissen meint, was es doch nicht weiß. Echtes Denken kann darum die oft gewünschte Gradlinigkeit nicht haben,
muss darum so unmenschlich und weltfremd sein, weil es selber keine biologische Funktion, sondern die Frage bedeutet, deren
Beantwortung die Möglichkeit aller biologischen Funktionen ist. Denn als Frage nach
dieser
Antwort ist es selber nicht Akt, sondern Voraussetzung.« 10
»Ermahnen kann man also nur von dort aus, wo Pharisäer und Zöllner ganz und gar in einer Reihe stehen […] und also gar kein
moralisches Ressentiment gegen einen Tirpitz zum Beispiel oder gegen einen Bethmann-Hollweg oder auch gegen einen Lenin vorliegt,
wohl aber die Einsicht, dass die in die Augen springende Problematik solcher Gestalten ganz und gar ihre Parallele hat in
der aus Gründen in den Ausmaßen etwas bescheidener geratenen eigenen Lebensproblematik, dass sie nur Schattenbild ist einer
noch ganz andern Problematik, vor deren Unheimlichkeit jeder Mensch nur verstummen kann. Ermahnung ist also überall da nicht
möglich, wo der Ermahner einen Programmentwurf und eine entsprechende Anklageschrift schon in der Tasche hat. Unverkennbar
verrät sich alles menschliche Ethos, das von den Höhen der Menschheit herunter |200| predigt, an dem gänzlich mangelnden, obwohl heiß erstrebten absoluten Ton seines Auftretens, an der sich überschlagenden,
heiser krächzenden, wenig imponierenden Stimme, die nur von dem Titanismus des bösen
und
des guten Menschen und von dem Gericht, unter dem
aller
Titanismus steht, immer neues Zeugnis ablegen kann. Ermahnung ist nur da möglich, wo des Menschen Recht darauf begründet ist,
dass er – Unrecht hat, also nur ›aufgrund der Erbarmungen Gottes‹.«
»Gnade heißt: nicht richten, weil schon gerichtet ist. Gnade heißt: Selbstverständlichkeit des schlechten Gewissens mitten
in den Verrichtungen der schlechten Welt, aber gerade in dieser Selbstverständlichkeit des schlechten Gewissens die unerhört
neue Möglichkeit eines (nie und nirgends ›guten!‹)
getrösteten
Gewissens.« 11
»[…] die Erneuerung eures Denkens – also doch wieder das Denken? Jawohl das Denken! Die primäre ethische Handlung ist ein
ganz bestimmtes
Denken
. Buße heißt
Um - Denken
. Die Schlüsselstellung des ethischen Problems, der Ort, wo die Drehung geschieht, die auf ein neues Tun hinweist, ist dieses
Um-Denken.« 12
So weit, so polemisch, so gültig wie dicht Karl Barth.
Die kirchliche Tradition stellt bei Paulus mehr das Schwere, ja Schwermütige und Ernste in den Mittelpunkt. Dabei sind seine
Briefe immer wieder voll von Überschwang, von übermächtig werdender Freude, dass in Christus ganz das JA ist. Und kein NEIN
ist in ihm. Das ist unendlich wichtiger als alles selbstquälerische Nachdenken über die Grund-Schuld des Menschen. Es geht
um das Frei-Werden des Menschen, nicht um selbstquälerische Selbsterkenntnis; aber ohne Selbsterkenntnis keine Freiheit. Ausgerechnet
im Philipperbrief, als er seine Verurteilung in Rom schon vor Augen hat und im Gefängnis sitzt, wird und wirkt er am gelöstesten:
|201| »Freuet euch in dem Herrn allewege, und abermals sage ich: Freuet euch!« (Philipper 4,4)
Sören Kierkegaard ist kaum denkbar ohne das Studium des Paulus, nicht von ungefähr hat sein großer Essay den Titel »Furcht
und Zittern«. Kierkegaard schreibt am 19. Mai 1838, 10.30 Uhr: »Es gibt eine unbeschreibliche Freude, die uns ebenso unerklärlich
durchglüht, wie der
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