Die Bibel nach Biff
nur noch als Silhouette vor dem Weiß des Berges zu erkennen war. Als wir schließlich aus dem Tal kletterten und selbst der große, schützende Überhang nicht mehr zu sehen war, hörten wir das Lied des Yeti. Nichts, nicht einmal das Tönen des Bockshorns in der Heimat, nicht der Schlachtruf der Banditen, nicht der Gesang der Klageweiber, nichts war mir je zu Ohren gekommen, was mich so sehr berührt hatte wie der Gesang des Yeti. Ein hohes Jammern, mit Rhythmus und Betonungen - wie ein dumpf schlagendes Herz -, klang das Lied des Yeti durchs ganze Tal. Der Yeti hielt seine klagenden Töne länger als es menschlichem Atem je möglich gewesen wäre. Die Wirkung war, als schüttete mir jemand ein Fass voll Kummer in die Kehle, bis ich glaubte, ich müsste vor Gram gleich kollabieren oder explodieren. Es klang, als weinten tausend hungrige Kinder, als rissen sich tausend Witwen an den Gräbern ihrer Männer die Haare aus, als sänge ein Engelschor sein letztes Klagelied an Gottes Todestag. Ich hielt mir die Ohren zu und sank im Schnee auf die Knie. Ich sah zu Josua hinüber, und Tränen liefen in Strömen über seine Wangen. Die anderen Mönche kauerten am Boden, als wollten sie einem
Hagelsturm entkommen. Kaspar wand sich, als er zu uns herüberblickte, und ich erkannte, dass er tatsächlich ein sehr alter Mann war. Vielleicht nicht ganz so alt wie Balthasar, doch sein Antlitz kündete von Schmerz und Pein.
»Da seht ihr es«, sagte der Abt, »er ist der Einzige seiner Art. Allein.«
Man musste die Sprache des Yeti nicht verstehen - falls er denn eine hatte -, um zu wissen, dass Kaspar Recht hatte.
»Nein, ist er nicht«, sagte Josua. »Ich gehe zu ihm.«
Kaspar nahm Josuas Arm, um ihn aufzuhalten. »Alles ist, wie es sein sollte.«
»Nein«, sagte Josua. »Ist es nicht.«
Kaspar riss seine Hand zurück, als hätte er sich verbrannt.
»Lasst ihn«, sagte ich zu Kaspar, ohne zu wissen, wieso ich es tat.
Josua machte sich allein wieder auf den Weg ins Tal, ohne noch ein Wort zu uns gesagt zu haben.
»Er wird wiederkommen, wenn es an der Zeit ist.«
»Was weißt du denn schon?«, fuhr mich Kaspar auf ausgesprochen unerleuchtete Weise an. »Du wirst dein Karma tausend Jahre lang als Mistkäfer abwetzen, um in vollkommener Verblödung zu enden.«
Ich sagte nichts dazu, verbeugte mich, wandte mich um und folgte meinen Brüdern zurück zum Kloster.
Es dauerte eine ganze Woche, bis Josua wieder bei uns war, und einen weiteren Tag, bis wir Zeit fanden, miteinander zu sprechen. Wir saßen im Speisesaal, und Josua hatte seinen und auch meinen Reis gegessen. Mittlerweile hatte ich mir einige Gedanken zur Not des Schneemenschen gemacht, oder wichtiger noch: zu seiner Herkunft.
»Glaubst du, es gab viele davon, Josh?«
»Nun, nie so viele wie es Menschen gibt, aber es gab viele.«
»Was ist mit denen passiert?«
»Ich bin mir nicht sicher. Wenn der Yeti singt, sehe ich Bilder in meinem Kopf. Ich habe gesehen, dass Menschen in die Berge kamen und die Yetis töteten. Ihnen fehlte der Kampfinstinkt. Die meisten standen nur da und sahen zu, wie sie erschlagen wurden, verstört darüber, wie böse der Mensch sein konnte. Andere liefen immer weiter in die Berge hinauf. Ich glaube, dass unserer ein Weibchen ist und Familie hatte. Sie sind verhungert oder langsam an irgendeiner Krankheit gestorben. Das kann ich nicht genau sagen.«
»Ist der Yeti ein Mensch?«
»Ich glaube nicht, dass er ein Mensch ist«, sagte Josua.
»Ist er ein Tier?«
»Ich glaube auch nicht, dass er ein Tier ist. Er ist sich seiner selbst bewusst. Er weiß, dass er der Einzige ist.«
»Ich glaube, ich weiß, was er ist.«
Josua betrachtete mich über den Rand seiner Schale hinweg.
»Und?«
»Erinnerst du dich an die Affenpfoten, die Balthasar der alten Frau in Antiochia abgekauft hat und die wie winzige Menschenfüße aussahen?«
»Ja.«
»Und du musst zugeben, dass der Yeti dem Menschen sehr ähnlich sieht. Mehr als jedes andere Lebewesen, stimmt's? Also, was ist, wenn er ein Wesen wäre, aus dem ein Mensch wird? Was, wenn er eigentlich nicht der Letzte seiner Art, sondern der Erste unserer Art ist. Ich bin daraufgekommen, weil Kaspar davon spricht, dass wir unser Karma in mehreren Inkarnationen als unterschiedliche Lebewesen erfüllen. Da wir in jeder Lebenszeit mehr lernen, können wir höher entwickelte Wesen werden. Na ja, vielleicht machen die Tiere das auch so. Wenn der Yeti irgendwo leben muss, wo es wärmer ist, verliert er
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