Die Bibel
strafende Vater, das kalte, herzlose Christentum haben darin ihre Wurzeln – ebenso die Selbstgerechtigkeit der Frommen, die frohlocken, wenn andere das vermeintliche Gottesurteil trifft.
Dass es heute anders ist, zeigte sich bei jener Flut, die an Weihnachten 2004 über Südostasien hereingebrochen war. Der Tsunami hinterließ Tod und Verwüstung. Aber kein Kirchenmann deutete dieses Grauen als Strafe Gottes. Der Bamberger Erzbischof sah in der Flut eine Anklage gegen die Reichen und forderte Frühwarnsysteme. Der oberste Bischof der deutschen Protestanten kritisierte die ungleichen Lebensverhältnisse in der einen Welt. Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz erklärte vorsichtig, die Theologie kenne heute die Grenzen der Theorie und halte sich deshalb mit Deutungen zurück. Der Papst sprach wortkarg von einer ungeheuren Tragödie.
Dagegen beschrieben kirchenferne Journalisten die «Sintflut» ganz unbefangen in biblischen Worten, berichteten von «apokalyptischen Szenen», einer «Flut biblischen Ausmaßes» im Urlauber-«Paradies» und fragten vorwurfsvoll: Wo war Gott? Die den Islamisten nahe stehende Zeitung «Attajdid» in Marokko deutete die Flut unverhohlen als Strafe Gottes: Der Tsunami sei nicht nur eine Vergeltung Allahs für den dort verbreiteten Sextourismus gewesen, sondern auch eine Warnung an Marokko, wo Prostitution und Homosexualität und der damit verbundene Fremdenverkehr die guten Sitten der Muslime verdürben.
Manche Muslime und christliche Fundamentalisten nehmen auch heute noch jede Naturkatastrophe zum Anlass, den Menschenvor Gott anzuklagen. Religionskritische Zeitgenossen reagieren genau umgekehrt: Sie schieben Gott auf die Anklagebank und fragen: Warum lässt du das zu? Oder sie können im Massensterben nichts anderes erkennen als sinnlosen Zufall und einen Beweis für die Nichtexistenz Gottes. Aufgeklärte Christen fragen nach dem Anteil des menschlichen Versagens an solchen Katastrophen – vielleicht, um nicht an ihrem Gott zu verzweifeln.
Diese moderne Haltung zeigte sich erstmals in Europa nach einer ähnlich großen Katastrophe. Im November 1755 waren durch Erdbeben und Springflut in Lissabon über sechzigtausend Menschen umgekommen. Und die kritischen Geister folgerten: Wenn Gott das Leid nicht verhindern kann, ist er nicht allmächtig. Wenn er es nicht verhindern will, ist er nicht allgütig. Irgendetwas kann also nicht stimmen am christlichen Gottesbild.
Der deutsche Philosoph Gottfried Wilhelm Leibniz, der von der Lissaboner Katastrophe nichts wissen konnte, weil er schon vierzig Jahre zuvor gestorben war, hatte noch mühsam versucht, darzulegen, warum diese Welt trotz menschlichen Leids und scheinbarer Unvollkommenheiten die beste aller möglichen Welten sei. Der französische Philosoph Voltaire spottete nach dem Lissaboner Beben: «Wenn dies die beste aller möglichen Welten ist, wie müssen dann erst die anderen sein?» Und er fragte: «Hat, der das Gute schuf, das Übel mitgeschaffen?»
Rousseau dagegen argumentierte schon ganz auf der Linie heutiger Bischöfe und fragte nach der Verantwortung des Menschen für die Folgen der Katastrophe: Nicht die Natur und nicht Gott, sondern die Menschen hätten zwanzigtausend Häuser von sechs bis sieben Stockwerken übereinander getürmt – was den Bewohnern zum Verhängnis wurde.
Längst wissen wir: Erdbeben, Tsunamis, Vulkanausbrüche sind Naturkatastrophen, die sich aus der geologischen Beschaffenheit unserer Erde zwangsläufig ergeben. Die beste Planung wird nicht verhindern können, dass Menschen dabei sterben. Deren Tod hat nichts mit göttlichen Eingriffen und nichts mit menschlichen Verfehlungen zu tun.
Was also ist der Kern der Sintflutgeschichte?
Gott beschließt zu Beginn die Totalvernichtung. Man erschrickt und stürzt sich erleichtert auf das Ende der Geschichte. Noahs Opfer und Dank, der liebliche Geruch, der Regenbogen und Gottes Versprechen, nun keine Sintflut mehr zu schicken, verleiten uns dazu, dies als Happy End zu verstehen und zu glauben, nun werde alles wieder gut.
Doch nichts wird wieder gut. Was hat sich denn durch die Sintflut geändert? Vor der Sintflut erklärte Gott, das Trachten des menschlichen Herzens sei böse von Jugend an. Nach der Sintflut sagt er exakt das Gleiche.
Der Mensch hat sich also nicht geändert. Aber Gott hat sich geändert. Er will seine Geschichte mit den Menschen fortsetzen, obwohl er weiß, dass es schon bald wieder Mord und Totschlag geben wird unter ihnen.
Noch
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