Die Bibliothek der Schatten Roman
er die Tageszeitung genauer studierte, spürte er einen leichten Stoß, der ihn zusammenfahren ließ. In der Schlagzeile auf dem Titelblatt ging es um eine relativ harmlose Sache,
eine neue Schulreform, die die Regierung in der Mache hatte. Doch als Jon den einleitenden Abschnitt las, hatte er das Gefühl, der Text strecke sich ihm entgegen und verlange förmlich danach, laut gelesen zu werden.
Schockiert wandte Jon den Blick ab, aber wohin er auch sah, fühlte er sich von den Hinweisen und Botschaften auf den Schildern, Plakaten und Zetteln im Laden bedrängt und aufgefordert, sie laut auszusprechen.
Er starrte konzentriert auf seine Schuhspitzen, bis die Verkäuferin fragte, womit sie ihm helfen könnte. Er sagte, was er haben wollte, bezahlte und hastete ohne aufzublicken aus dem Laden, sowie er die Brötchentüte in der Hand hatte.
Auf dem Weg nach Hause richtete er den Blick bis unmittelbar vor die Haustür stur auf den Bürgersteig. Die Treppe nahm er im Laufschritt, denn wenn er aus Versehen mit dem Blick die Türschilder streifte, schienen auch diese nach ihm zu greifen, ihn aufhalten oder ihm ein Bein stellen zu wollen.
Jon schloss eilig die Wohnungstür auf und zog die Tür hinter sich zu. Atemlos lehnte er sich mit dem Rücken gegen den Türrahmen.
»Jon?«, fragte Katherina besorgt aus dem Wohnzimmer. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und ging in die Wohnung. Katherina kam ihm in die Decke gewickelt entgegen.
»Alles in Ordnung mit dir?«
»Ich hab Brötchen geholt«, sagte er und hielt die Tüte hoch. Seine Hände zitterten so stark, dass das Papier raschelte.
»Was ist passiert?«, wollte Katherina wissen.
Jon setzte sich an den Küchentisch und beschrieb, was er in der Bäckerei erlebt hatte. Erst hinterher bemerkte er, dass er die Tüte noch immer umklammerte und seine Jacke noch nicht ausgezogen hatte.
»Ich glaube, das ist ziemlich normal«, meinte Katherina. »Iversen erzählt gern von seiner Aktivierung und dass er sich plötzlich von den Büchern angegriffen fühlte, die vorher seine
besten Freunde waren.« Sie nahm ihm die Brötchentüte aus der Hand. »Das ist nur am Anfang so. Wenn du dich daran gewöhnt hast, kannst du selber bestimmen, wann es passiert.«
Jons Atmung ging wieder normal. Aber er blieb sitzen, während er die Schuhe von den Füßen streifte und die Jacke auszog. Katherina ging zurück ins Wohnzimmer. Er rieb sich mit den Handflächen übers Gesicht. Was wäre passiert, wenn er weiter in der Zeitung gelesen hätte? Konnte er verantworten, jemals wieder etwas zu lesen, oder stellte er nur im Libri di Luca eine Gefahr für seine Mitmenschen dar?
»Wie sind wir eigentlich gestern nach Hause gekommen?«, fragte Jon laut.
»Du meinst vorgestern«, rief Katherina aus dem Wohnzimmer. »Du hast 36 Stunden geschlafen.«
Als sie wieder in die Küche kam, trug sie ihre Jeans.
»Kortmann hat uns hergefahren. Sein Chauffeur hat dich hochgetragen. Du warst nicht wachzukriegen.«
»Und du warst die ganze Zeit hier bei mir?«
Katherina zuckte mit den Schultern.
»Ich hatte sowieso nichts anderes vor«, lächelte sie verlegen.
Jon hielt ihren Blick fest. Ihr war anzusehen, dass sie selbst nicht viel Schlaf bekommen haben konnte. Er stellte sich vor, dass sie neben seinem Bett gesessen hatte, während er geschlafen hatte. Er räusperte sich und senkte den Blick.
Die Mitteilung, dass er anderthalb Tage geschlafen hatte, weckte schlagartig wieder seinen Hunger. Er stand auf und setzte Kaffee auf.
Während sie aßen, erzählte Katherina, was im Laden passiert war, nachdem er wieder eingeschlafen war. Die Diskussion hatte sich hauptsächlich darum gedreht, ob die Schattenorganisation wirklich existierte oder nicht, und natürlich waren sie zu keinem einstimmigen Ergebnis gekommen. Clara war von der Existenz überzeugt und plädierte für einen Zusammenschluss
der beiden Flügel, während Kortmann und Paw sich weigerten, an eine Schattenorganisation zu glauben. Am Ende hatte man sich in einer Art Kompromiss darauf geeinigt, Jon zu bitten, Remer ausfindig zu machen und seine Zugehörigkeit zu der Schattenorganisation zu bestätigen oder zu verwerfen. Danach sollte beschlossen werden, wie man weiter vorgehen sollte.
»Und wie sollen wir ihn finden?«, erkundigte sich Katherina.
Jon durchsuchte seine Jacke, die über dem Stuhlrücken hing.
»Er wird uns selbst dabei behilflich sein«, verkündete er und legte einen Schlüsselbund auf den Küchentisch.
Zwischen den
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