Die Bibliothek der Schatten Roman
Fähigkeiten zu forcieren oder zu starke Effekte zu erreichen. Ich muss dir die ganze Zeit folgen können.«
»Als Nächstes erzählst du mir wahrscheinlich, dass das auch nicht schwerer als Radfahren ist«, kommentierte Jon trocken.
Katherina wurde rot.
»Fang einfach an, wenn du so weit bist«, bat sie und reichte ihm eines der Bücher. »Wenn du eine Art Blockade spürst, das bin ich, ich halte dich zurück, und dann solltest du aufhören.«
Jon nickte und sah sich den Umschlag an. Es durchfuhr ihn, als der Titel sich ihm wie eine dreidimensionale Reklame entgegenstreckte. Er sah ihn eine Weile an und versuchte, sich daran zu gewöhnen, dass die Buchstaben in wechselnder Farbe und Größe pulsierten.
»Alles in Ordnung?«, fragte Katherina.
Er nickte und schlug das Buch auf. Schlagartig sprangen ihm die Zeichen von der Seite entgegen. Er wandte den Blick ab. Auf seiner Stirn bildeten sich Schweißperlen. Verbissen richtete er seinen Blick wieder auf den Text und begann zu lesen. Sofort nahm er die Buchseiten anders wahr. Die Buchstaben und Wörter reihten sich ordentlich aneinander und warteten brav, bis sie dran waren, statt sich in einem verwirrenden Buchstabenknäuel darzustellen. Erleichtert fand er einen bequemen Leserhythmus, traute sich aber noch nicht, Gefühl in das Gelesene zu legen. Immer wieder schielte er zu Katherina hinüber, die auf dem Bauch lag, den Kopf auf den Unterarmen, das Gesicht ihm zugewendet. Ihre grünen Augen waren geschlossen, und ein leises Lächeln lag auf ihren Lippen. Sie sah nicht die Spur besorgt aus.
Dieses Mal wusste er, dass ihm eine Reihe unsichtbare Knöpfe zur Verfügung standen, mit denen er der Geschichte Leben einhauchen konnte. Nach und nach legte er mehr Gefühl in seinen Vortrag, gab den Figuren mehr Charakter und den Beschreibungen mehr Farbe. Wie bei der Aktivierung trat der Text dadurch stärker aus dem nebulösen Hintergrund heraus, und die Buchstaben hoben sich deutlicher ab, aber noch zögerte er, den weißen Schleier zu zerreißen. Er stellte fest, dass die Wahrnehmung der weißen Fläche und der Bilder, die er aus dem Text herausschälte, zwei unterschiedliche Dinge waren. Die Bilder entstanden aus seinem Erleben und Verständnis des Textes und waren ein Produkt seiner persönlichen Erfahrungen und der Akzentuierung, die er dem Vorgelesenen kraft seiner neuen Fähigkeiten verlieh. Die
Handlung des Buches spielte in Kopenhagen, was ihn in die Lage versetzte, Details hinzuzufügen, die nicht im Text standen, sondern seinen Assoziationen entsprangen.
Jon experimentierte damit, die Atmosphäre in den Bildern zu verändern, und entdeckte, dass hinter der Milchglasscheibe Schatten sichtbar wurden, wenn er sich richtig konzentrierte, und dass die Bilder und Schatten sich immer mehr den Bildern aus seinem Unterbewusstsein annäherten. Kurz vorher spürte er, wie er gebremst wurde, und versuchte, nicht weiter in diese Richtung zu drängen. Auf diese Weise probierte er verschiedene Instrumente aus, bis er hörte, dass Katherina ihn rief.
Er nahm den Blick vom Buch und stellte fest, dass sie rittlings auf ihm saß.
»Wie war ich?«, fragte er und warf das Buch beiseite.
»Sehr gut«, sagte sie. »Du bist äußerst talentiert.«
Jon zog die Schultern hoch.
»Danke. Aber ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung, was ich da eigentlich tue.«
»Das kommt noch«, versicherte Katherina überzeugt. »Ich fand, dass es gut gelaufen ist. Es gibt zwei Dinge, die du berücksichtigen musst. Das eine sind die Zuhörer. Jeder Mensch fasst eine Geschichte anders auf. Zum Teil liegt das an den persönlichen Erfahrungen, sicher aber auch an der emotionalen Tagesform einer Person - ob sie an diesem Tag gefühlsmäßig besonders verletzlich oder dickhäutig ist. Darum sollte die Betonung möglichst innerhalb einer gewissen sicheren Grenze bleiben, damit du den schwächsten Zuhörer nicht zu sehr beeinflusst.«
»Woher soll ich wissen, wie viel ich den Zuhörern zumuten kann?«
»Mit der Zeit wirst du einzuschätzen lernen, wie die Lesung aufgenommen wird. Dazu ist das Training da.« Sie presste ihren Unterleib gegen seinen und lächelte frech.
»An was für Training denkst du jetzt?«, fragte Jon lachend. »Du hast von zwei Dingen gesprochen.«
»Das Zweite ist schwieriger«, erklärte Katherina ernst. »Weil wir nicht wissen, wie es entsteht. Ich meine die physischen Phänomene, die du offensichtlich auslösen kannst. Es ist wichtig, dass wir herausfinden, unter welchen
Weitere Kostenlose Bücher