Die Bibliothek der Schatten Roman
Clara sahen sich fragend an und blickten dann zu Jon. Er hatte aber keine Lust, das Thema weiter zu vertiefen. Zum einen war er zu erschlagen für ein ausgedehntes Verhör, zum anderen war er noch immer verbittert darüber, was der Fall Remer ihn gekostet hatte. Und diese Verbitterung würde bei den ohnehin skeptischen Zuhörern womöglich einen falschen Eindruck hinterlassen.
»Das glaub ich nicht«, platzte Paw heraus. »Das könnte genauso gut ein übereifriger Buchhändler sein. Wenn tatsächlich die Schattenorganisation dahintersteht, wieso sollten sie es dann ausgerechnet auf das Libri di Luca abgesehen haben?«
»Darauf kann ich, glaube ich, eine Antwort geben«, sagte Iversen. »Das Libri di Luca ist eines der ältesten Antiquariate Kopenhagens. Die Bücher auf der Galerie und unten im Keller haben nicht bloß für Bibliophile einen besonderen Wert. Sie sind aufgeladen. Über viele Jahre haben Lettori aus ebendiesen Büchern in diesen Räumlichkeiten gelesen, in denen
wir uns befinden. Wir wissen nicht, warum, aber bei jeder Lesung wird ein Buch aufgeladen. Luca vertrat die Theorie, dass diese Energie sich auch in dem Gebäude ablagert.« Kortmann wollte protestieren, aber Iversen hob die Hände, um seinen Gedanken zu Ende zu bringen. »Es ist sicher kein Zufall, dass eine Aktivierung hier leichter durchzuführen ist als anderswo«, fuhr er fort. »Möglicherweise liegt es an den Büchern, vielleicht aber auch daran, dass in diesen Wänden die Energie von Generationen gespeichert ist.«
»Und diese Energie hat Jon freigesetzt?«, dachte Katherina laut.
»Ja, oder zumindest hat er eine Verbindung zu ihr hergestellt«, antwortete Iversen. »Das würde jedenfalls erklären, wieso die Schattenorganisation nicht nur an den Büchern, sondern auch an den Räumlichkeiten interessiert ist.«
»Und wieso haben sie dann versucht, den Laden abzufackeln?«, fragte Paw.
»Das sollte vermutlich bloß eine Warnung sein«, erwiderte Iversen. »Möglicherweise kann Feuer der Energie nichts anhaben.«
Jon streckte sich wieder aus, weil er so erschöpft war. Er hatte nicht das Gefühl, irgendeine Energiequelle angezapft zu haben, es kam ihm eher so vor, als wäre er selbst angezapft worden, und das so effektiv, dass er kaum noch die Augen offen halten konnte. Die Stimmen um ihn herum flossen ineinander, und er musste sich konzentrieren, um nicht einzuschlafen. Er glaubte, Katherina seinen Namen sagen zu hören, bekam die Augen aber nicht mehr auf.
Jon genoss es, in seinem eigenen Bett aufzuwachen. Er konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal ohne schlechtes Gewissen so lange geschlafen hatte. Er hatte keinen Termin und keine Sitzung. Auf dem Nachtschränkchen stand ein Glas Wasser, das er mit einem Schluck leerte. Draußen war es hell.
Der Radiowecker klärte ihn auf, dass es früher Vormittag war.
Er konnte sich nicht erinnern, wie er nach Hause gekommen war, und die damit verbundene Neugierde trieb ihn schließlich aus dem Bett. Er trug ein T-Shirt und eine Unterhose, was nur bedeuten konnte, dass er sich nicht selbst ausgezogen hatte. Normalerweise schlief er nämlich nackt.
Im Wohnzimmer entdeckte er Katherina, die auf dem Sofa schlief. Sie hatte sich mit einem grauen Plaid zugedeckt, das nicht recht zu ihren roten Haaren und ihrer blassen Haut passen wollte. Auf dem Couchtisch lagen neben einem Glas Wasser ordentlich zusammengelegt ihre Jeans und ein Sweater.
Er blieb stehen und betrachtete die Schlafende. Das Zucken ihrer Augenlider verriet, dass sie träumte, und einen Augenblick lang wünschte er sich, die Bilder zu sehen, die sie sah, so wie sie sehen konnte, was für Bilder beim Lesen in seinem Kopf entstanden. Lächelnd riss er sich von dem Anblick los und ging in die Küche. Da die Schränke nichts boten, was sich zum Frühstück eignete, schlich er zurück ins Schlafzimmer und zog sich an.
Draußen war es neblig, ein dichter, fast breiiger Dunst, der ihn nicht weiter als 20 Meter sehen ließ. Er vergrub die Hände in den Taschen und lief die wenigen 100 Meter zum Bäcker.
Erst in der Bäckerei fiel es ihm auf.
Jon stand hinter zwei anderen Kunden in der Schlange. Die alte Frau am Tresen fummelte zwischen den Münzen in ihrem Geldbeutel herum, während der Mann mittleren Alters, der hinter ihr stand, seine Ungeduld zu zügeln versuchte. Wahrscheinlich war er auf dem Weg zur Arbeit und ziemlich spät dran. Jons Blick schweifte von den Kunden über die Verkäuferin zum Zeitungsständer.
Als
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