Die Bibliothek der Schatten Roman
nickte.
»Es ist ein bekanntes Phänomen, dass man es anfänglich gerne übertreibt«, fuhr Iversen fort. »In deinem Fall kann das richtiggehend gefährlich werden, aber auch schon bei einem normalen Sender können die Konsequenzen schlimm sein. Abgesehen von den emotionalen Effekten, die ein Text haben kann, können die Zuhörer Kopfschmerzen oder Übelkeit bekommen, wenn der Sender seine Betonung nicht vorsichtig und im Einklang mit der Botschaft des Textes dosiert.«
Katherina hatte einige wenige Male mitbekommen, dass ein Sender solche Verzerrungen, wie sie das nannten, verursacht hatte. Für gewöhnlich geschah das, wenn ein unerfahrener Sender die Botschaft des Textes zu stark forcierte oder mit seiner Deutung darüber hinausging und den eigentlichen Text verdrehte. Paw war zu Beginn seiner Karriere im Libri di Luca einer dieser Kandidaten gewesen. Da er nie trainiert worden war, kannte er weder die Kraft noch die Grenzen seiner Fähigkeiten, so dass er die meisten seiner Zuhörer verwirrte - sei es nun aus Unwissenheit oder Ungeduld. Zum Glück waren seine Fähigkeiten recht begrenzt, woran er nicht gerne erinnert wurde, so dass er nicht allzu viel Schaden anrichten konnte. Nach ein paar Monaten in Lucas Schule hatte er gelernt, diese Verzerrungen zu kontrollieren, aber er war nie ein so guter Sender wie Iversen oder gar Jon geworden.
»Heute Nacht holen wir uns die Informationen über Remer«, erzählte Jon. »Können wir uns hier morgen früh treffen?
Bevor du den Laden aufmachst?« Er stapelte die Bücher auf dem Tisch und klemmte sie sich dann alle unter einen Arm.
»Natürlich«, antwortete Iversen. »Ich bin eine Stunde vorher hier.« Er umarmte Katherina. »Pass gut auf«, flüsterte er ihr ins Ohr.
Die Anwaltskanzlei Hanning, Jensen & Halbech lag in der Store Kongensgade in einem alten, majestätisch aussehenden Gebäude mit Aussicht über Nyboder. Es war zwei Uhr nachts, doch auf der Etage, in die sie wollten, brannte noch Licht.
»Und was jetzt?«, fragte Katherina, gleichermaßen enttäuscht und erleichtert, den Einbruch aufschieben zu müssen.
»Kann sein, dass da noch jemand arbeitet«, räumte Jon ein. »Oder bloß vergessen hat, das Licht auszumachen. Vielleicht ist das die Putzkolonne.« Er sah sich nach beiden Seiten um. Um diese Uhrzeit gab es hier keinen Verkehr, und in den Häusern ringsherum waren nur einige wenige Fenster erleuchtet. »Das werden wir wohl herausfinden müssen«, sagte er.
Sie gingen über die Straße auf das rote Backsteingebäude zu. Vor einer schweren Eichentür blieben sie stehen, und Jon sah sich noch einmal um. Dann fischte er den Schlüsselbund mit dem Brillenschlumpf aus der Tasche und schloss die Tür auf.
Leise und ohne das Licht anzuschalten gingen sie die Treppe hoch. Von jeder Etage zweigten Glastüren zu exklusiven Firmen ab, doch auf keinem der Flure brannte Licht, bis sie in den zweiten Stock kamen, in dem sich die Büros von Jons früherem Arbeitgeber befanden.
Jon blickte durch die Glastür in den Eingangsbereich. Er fluchte leise.
»Anders Hellstrøm ist da«, flüsterte er und ließ Katherina durch die Tür schauen.
Sie sah ein weitläufiges, fast vollständig dunkles Großraumbüro mit grauen Schreibtischen, auf denen Flachbildschirme
standen. An einem der Tische saß ein Mann. Er wandte ihnen den Rücken zu, und der Tisch vor ihm lag voller Aktenordner und Dokumente, die jeden Augenblick abzustürzen drohten.
Katherina konzentrierte sich auf sein Lesen. Es ging nur stockend, denn er war nicht konzentriert - sie spürte, dass er müde war. Immer wieder tauchten Bilder eines Schlafzimmers und eines gemütlich aussehenden Sofas zwischen den juristischen Zeilen auf, und mehrmals musste er einen Abschnitt, den er gerade gelesen hatte, wieder von vorn beginnen.
»Wohin müssen wir?«, fragte Katherina langsam.
Jon deutete auf eine Tür am anderen Ende des Büros. Es gab keine Möglichkeit, dorthin zu gelangen, ohne von dem Mann am Schreibtisch bemerkt zu werden. Er brauchte nur aufzublicken.
»Ich kann ihn ablenken«, schlug Katherina vor.
Jon sah sie verblüfft an, nickte dann aber und suchte den richtigen Schlüssel heraus.
Katherina konzentrierte sich wieder auf das Lesen des Anwalts. Dieses Mal half sie ihm, den Text zu fokussieren, verstärkte das Geschriebene und hielt die unwillkommenen Bilder auf Abstand. Sie spürte die Erleichterung des Mannes und sein steigendes Interesse für den Text. Schon bald war er so konzentriert,
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