Die Bibliothek der Schatten Roman
hatte.
»Außerdem hat er es verdient«, fuhr Jon mit leichter Verbitterung fort. »Ich glaube, wir haben, was wir brauchen. Sehen wir, dass wir wegkommen.«
Katherina sorgte dafür, dass der erschöpfte Anwalt sich noch einmal mit aller Macht auf seine Papiere konzentrierte, während sie das Archiv verließen und sich an der Wand entlang durchs Büro schlichen. Anders Hellstrøms Augen starrten mit sichtbarer Anstrengung in die Papiere, und Katherina bemerkte das leichte Zittern seiner Hände.
Als sie an ihm vorbei waren, gingen sie etwas schneller, um so rasch wie möglich aus der Kanzlei zu kommen. Jon schloss ab, woraufhin Katherina aufhörte, auf den Anwalt einzuwirken. Sie sah, wie sein Körper auf dem Bürostuhl zusammensackte. Doch dann richtete er sich auf und sah sich um, ehe er sich die Augen rieb, aufstand, sich streckte und so laut gähnte, dass sie es noch im Treppenhaus hören konnten.
»Schlaf gut«, sagte Jon.
Als sie am nächsten Morgen am Libri di Luca ankamen, schloss Iversen gerade die Ladentür auf.
»Wie ist es gelaufen?«, fragte er.
»Gut«, antwortete Jon. »Ich glaube, wir haben, was wir brauchen.« Er hielt die Plastiktüte hoch, in der er die Papiere hatte.
»Ich will gar nicht wissen, wie ihr da rangekommen seid«, sagte Iversen mit einem Kopfschütteln. »Wir können uns in
den Keller setzen. Paw hat es gestern noch geschafft, das Licht zu reparieren.«
Sie gingen direkt nach unten. In der Bibliothek teilten Iversen und Jon den Stapel Papiere zwischen sich auf. Jon kümmerte sich um Remers umfassende geschäftliche Tätigkeit, während Iversen sich die Zeitungsberichte und Hintergrundinformationen vornahm.
Katherina fühlte sich wie ein fünftes Rad am Wagen und lief zwischen den Regalen herum, während die beiden arbeiteten. Sie empfing, was sie lasen, aber es handelte sich vorwiegend um Auflistungen von Firmen und Personen, so dass sie rasch das Interesse verlor. Stattdessen nutzte sie die Zeit, wie schon so oft die Bücher in der Bibliothek zu bewundern. Sie wurde es nie leid, die fantastischen Illustrationen zu studieren und die Arbeit zu bewundern, die in jedem dieser Bände steckte. Einzelne Exemplare waren bei Jons Aktivierung so zerstört worden, dass sie nicht mehr zu retten waren, doch Iversens und Paws rasche Reaktion hatten die größte Katastrophe verhindert, nämlich dass alle Bücher verbrannt wären.
Am Lichtschalter neben der Tür war noch immer ein großer, verkohlter Fleck zu sehen, und auch die verrußten Teppichränder zeugten noch von der außergewöhnlichen Begebenheit, die erst vor wenigen Tagen vorgefallen war. Bei den Papieren, die Jon jetzt las, war das Risiko einer heftigen Reaktion sehr gering. Trotzdem richtete sie jetzt, da ihr seine Aktivierung wieder in den Sinn gekommen war, ihre Aufmerksamkeit auf Jons Lesen. Es verlief vollkommen undramatisch. Jon las die leblosen Texte ohne jedes Gefühl, und den Bildern nach zu schließen, die sich in seinen Kopf drängten, war er nicht sehr konzentriert. Katherina errötete leicht, als sie bemerkte, dass sie selbst in einigen dieser Bilder auftauchte.
»Stopp«, rief sie plötzlich und zeigte auf Jon.
Die beiden sahen sie verwundert an.
»Was liest du?«, fragte sie Jon.
Er warf einen Blick auf seine Papiere.
»Eine Liste über die Vorstandsmitglieder von einer von Remers Gesellschaften«, antwortete Jon. »Warum?«
»Lies die Namen noch einmal«, schlug Katherina vor.
Er blickte wieder auf seinen Zettel und arbeitete sich langsam durch die Liste der Namen. Als er etwa auf der Hälfte der Seite war, riss er die Augen auf und sah die anderen an.
»W. Kortmann«, sagte er verblüfft.
VIERUNDZWANZIG
B ei Tageslicht sah Kortmanns Villa noch grotesker aus als bei Nacht. Das riesige Gebäude mit den glänzenden, roten Backsteinen glich auf den ersten Blick einem Knusperhäuschen, doch dieser Eindruck wurde von dem verrosteten Fahrstuhlturm verschandelt, der wie ein alter, hohler Baumstamm am Haus lehnte. Der Himmel war tiefblau und die Rasenfläche um das Haus herum noch immer sattgrün, obwohl der Oktober bereits weit fortgeschritten war.
Jon überlegte, ob es an dem herrlichen Wetter oder an Katherinas Anwesenheit lag, dass Kortmann sie draußen auf der Einfahrt und nicht in seiner Bibliothek empfing. Er saß in einem antik anmutenden Rollstuhl mit geschwungenem schwarzem Metallrahmen und roten Lederpolstern. Eine dicke Wolldecke bedeckte seine Beine. Er trug eine Sonnenbrille.
Sie hatten
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