Die Bibliothek der Schatten Roman
Katherina fürchtete sich. Ihr Herz hämmert und ihr war so übel, dass sie nach Luft schnappte.
»Selbstmord können wir dieses Mal wohl ausschließen«, meinte Henning und versuchte, ruhig zu klingen. Er nickte in Richtung Turmdecke. »Er kann das Seil unmöglich selbst dort oben befestigt haben.«
Katherina richtete ihren Blick zu den Eisenträgern über ihren Köpfen, an denen das Seil festgeknotet war. Dorthin waren es sicher mehr als zwei Meter. Dann folgte sie dem Seil mit den Augen bis zu dem Leichnam auf dem Boden und zwang sich, Kortmann anzusehen, obgleich sie am liebsten weggelaufen wäre oder die Augen geschlossen hätte. Um den Hals des schmächtigen Körpers lag eine Schlinge. Da bemerkte sie, dass auch seine Hände gefesselt waren, und machte Henning darauf aufmerksam. Er kniete sich neben den Toten und studierte seine Hände. Dann nickte er. Zögernd legte er zwei Finger an Kortmanns Hals, zuckte aber gleich wieder zurück, als hätte er einen elektrischen Schlag bekommen.
»Er ist eiskalt«, konstatierte Henning und wischte sich die
Finger an der Hose ab, als hätte er Angst, sich mit irgendeiner Krankheit anzustecken.
Er stand auf, stieg über die Leiche und stieß die Tür auf. Im Übergang zur Villa lag Kortmanns umgestoßener Rollstuhl. Etwas weiter dahinter eine karierte Decke. Die Tür, die am Ende des Übergangs in die Villa führte, stand offen, das Licht brannte.
Sie sahen sich an.
»Meinst du nicht, wir sollten lieber abhauen?«, schlug Katherina vor.
»Lass uns kurz einen Blick hineinwerfen«, erwiderte Henning und trat auf den Steg. Katherina folgte ihm. Sie war erschrocken über den Lärm ihrer Schritte auf der stählernen Brücke und versuchte, so leise wie möglich zu gehen. Henning schien der Lärm nicht zu stören. Resolut trat er auf die Tür zu.
Sie kamen in einen Flur mit Gemälden an den Wänden und einem dicken Teppich auf dem Boden, der zu Katherinas großer Erleichterung das Geräusch ihrer Schritte dämpfte. Henning ging auf eine weitere offene Tür am Ende des Flures zu. Sie führte in die Bibliothek, die Jon ihr beschrieben hatte. Trotz allem war sie überrascht über den konsequenten Stil und die ruhige Atmosphäre, die der Raum ausstrahlte. Sie hatte Kortmann als misstrauischen, machthungrigen Mann kennengelernt und dabei ganz vergessen, dass auch er ihre Passion für Bücher teilte.
An den Wänden standen Regale mit gut erhaltenen, in Leder gebundenen Büchern. Der Kronleuchter unter der Decke warf weiches Licht auf die Leseplätze in der Mitte des Raumes, während die indirekten Strahler über den Regalen die Decke höher erscheinen ließen, als sie war, und der Bibliothek etwas Museales gaben.
Sie waren keine 20 Schritte von Kortmanns Leiche entfernt, doch kaum hatten sie den Raum betreten, schien es, als wären sie in einer anderen Welt, einem Universum aus Ordnung und
Raffinesse. Die Unruhe, die Katherina nach der Entdeckung von Kortmanns Leiche empfunden hatte, war wie weggeblasen. Jetzt wünschte sie sich, einfach bleiben zu können. Sie trat an das nächste Regal und legte die Handfläche auf die Bücher, die sich warm an ihre Haut schmiegten.
»Beeindruckend, nicht wahr?«, seufzte Henning. »Was wird jetzt aus diesen Büchern?« Seine Stimme war voller Trauer, als spräche er über verwaiste Kinder. Er ließ sich in einen der Ledersessel fallen und sah sich um.
Mit den Fingerspitzen auf den Rücken der Bücher im Regal ging Katherina langsam an einer Wand entlang. Es gab keinen Zweifel, dass es sich um wertvolle Bände handelte. Viele davon waren so aufgeladen, dass ihre Finger kribbelten, wenn sie darüberstrich. Henning hatte Recht, es wäre ein großer Verlust, wenn diese Bücher zufällig irgendwo in der Welt verteilt würden, aber was konnten sie tun?
»Wenn wir sie doch mitnehmen könnten«, sagte Henning, als hätte er ihre Gedanken gelesen.
Katherina nickte. Sie hatte das Gefühl, einen gerade erst entdeckten Seeräuberschatz zurücklassen zu müssen, weil er nicht mehr ins Rettungsboot passte.
»Wir müssen weg«, meinte sie und riss sich von den Büchern los.
Henning stand widerwillig auf und sah sich ein letztes Mal um, bevor er zurück zum Turm ging.
Im Aufzug wurden sie wieder mit der harten Wirklichkeit konfrontiert, denn Kortmanns Leiche lag noch immer wie versteinert auf dem Boden des Fahrstuhls.
»Dann war er also doch kein Verräter«, stellte Henning traurig fest.
»Sieht so aus«, antwortete Katherina. Es war ihr
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