Die Bibliothek der Schatten Roman
unangenehm, Kortmann ohne wirkliche Beweise verurteilt zu haben. Aber sie tröstete sich damit, dass er ja auch nicht gerade sehr kooperativ gewesen war.
»Wir können ihn nicht einfach hier liegen lassen«, sagte Henning mit Nachdruck.
»Wenn wir ihn bewegen, fällt der Verdacht auf uns«, meinte Katherina.
»Das ist ein Mordfall«, sagte Henning. »Wenn die Polizei rauskriegt, dass wir hier waren, haben wir so oder so ein Problem.« Er stellte sich auf Zehenspitzen und streckte die Finger nach den Knoten aus.
Nachdem sie Kortmann von den Stricken befreit hatten, hob Henning den leblosen Körper hoch und trug ihn ins Haus. Katherina blieb stehen. Sie spürte förmlich, dass sie einen großen Fehler begingen, konnte gleichzeitig aber auch verstehen, dass Henning es nicht akzeptieren konnte, seinen langjährigen Mentor in einem kalten Aufzugschacht liegen zu lassen. Als er zurückkam, sagte er nichts, sondern wischte mit seiner Jacke sorgsam die Klinke und die Knöpfe des Aufzugs ab.
Der Weg nach unten kam Katherina wie eine Ewigkeit vor. Sie wollte so schnell wie möglich weg. Seit ihrer Ankunft hatte sie das Gefühl, beobachtet zu werden. Als wäre das Ganze inszeniert und als warteten alle Beteiligten nur darauf, dass sie ihre Rollen spielten. War es beabsichtigt, dass sie und nicht die Polizei Kortmann fanden? Konnte das eine Warnung der Schattenorganisation sein?
Der Himmel war noch immer grau, und wieder fielen vereinzelte Tropfen mit hörbarem Klatschen zu Boden. Es war erst später Nachmittag, aber fast vollkommen dunkel, so dass sie den Weg kaum noch erkennen konnten. Sie hasteten durch den Garten zur Vorderseite des Hauses, wo ihr Auto stand.
Gerade als sie ins Auto steigen wollten, hörten sie das Brummen eines Motors von der Einfahrt. Beide erstarrten und wandten ihre Köpfe zum Licht.
Eine Sekunde später wurden sie von zwei Scheinwerfern geblendet.
ACHTUNDZWANZIG
D a stimmt was nicht«, stellte Jon fest, als Katherinas und Hennings Gesichter im grellen Licht der Autoscheinwerfer auftauchten. Sie sahen blass aus und hatten die Augen weit aufgerissen, halb überrascht, halb verängstigt. Hinter ihnen lag Kortmanns Villa im Dunkeln, bis auf ein einziges erleuchtetes Fenster im ersten Stock.
»Bestimmt hat er sie rausgeschmissen«, sagte Paw, der auf der Rückbank saß. »Das sähe ihm ähnlich, dem alten Diktator.«
Jon hatte sich zu guter Letzt überzeugen lassen, dass Paw es tatsächlich ehrlich meinte und wirklich auf ihrer Seite stand, weswegen er ihm angeboten hatte mitzufahren. Natürlich war ihm klar, dass er nicht allein darüber entscheiden konnte, ob Paw in der neuen Konstellation akzeptiert werden würde oder nicht. Er bereute bereits, ihn mitgenommen zu haben.
Jon ließ das Auto langsam ausrollen. Katherina schien ihn jetzt erkannt zu haben, und Erleichterung machte sich auf ihrem Gesicht breit. Als Jon anhielt, stand sie schon vor der Tür und fiel ihm um den Hals, sobald er ausgestiegen war. Er spürte, wie sie zitterte.
»Was ist passiert?«, fragte er.
»Kortmann ist tot«, verkündete Henning von der anderen Seite des Autos.
»Tot? Wie das?«
»Wir haben ihn im Turm gefunden. Erhängt«, erklärte Henning und machte eine Kopfbewegung Richtung Haus. »Es sieht ganz danach aus, als hätte da jemand … nachgeholfen.«
Jon schob Katherina ein Stück von sich weg und betrachtete ihr Gesicht. Ihre Augen glänzten, und noch immer zitterte sie leicht. Sie bestätigte Hennings Geschichte mit einem Nicken. Jon zog sie wieder an sich und legte seine Arme um sie.
»Kann es ein Einbruch gewesen sein?«, fragte er über Katherinas Schulter hinweg. »Immerhin war das Tor offen, da hätte jeder reinkommen können.«
Henning schüttelte den Kopf.
»Das ist nicht sehr wahrscheinlich. Soweit wir es überblicken konnten, wurde nichts entwendet.«
Jon merkte, wie Katherina zusammenzuckte, als sie Paw aus dem Wagen steigen sah.
»So viel zu eurer Theorie, dass er einer Schattenorganisation angehörte, oder?«
Henning war nicht weniger überrascht als Katherina, Paw zu sehen. Er sah Jon vorwurfsvoll an.
»Was hat der hier zu suchen?«
»Er hat offensichtlich seine Meinung geändert«, antwortete Jon.
»Ich wollte nicht Kortmanns Laufbursche sein«, mischte Paw sich ein. »Aber das brauche ich jetzt ja nicht mehr zu befürchten.« Er schüttelte den Kopf. »Armer Kerl.«
Henning musterte Paw mit größter Skepsis, zuckte dann aber mit den Schultern.
»Hier können wir jedenfalls
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