Die Bibliothek der Schatten Roman
Stunden, in denen Luca oder Iversen ihm vorgelesen hatten. Sie saßen in
dem grünen Sessel hinter der Kasse, und Jon kauerte entweder auf ihrem Schoß oder auf dem Boden. In diesen Stunden war er Zeuge fantastischer Erzählungen geworden, deren Bilder er heute noch ganz plastisch vor Augen hatte.
Das Antiquariat sah wirklich noch genau so aus, wie er es in Erinnerung hatte, sah man einmal von zwei Dingen ab: Ein Stück der Reling des Seeräuberschiffes war durch ein neues, helleres Holzgeländer ersetzt worden, und auf dem dunklen Ladentisch stand ein Strauß weiße Tulpen. Diese beiden Dinge standen in einem gewissen Kontrast zu der geruhsamen Atmosphäre des Ladenlokals, als handelte es sich um ein Rätsel, bei dem man die Dinge erkennen musste, die nicht ins Bild passten.
»Er kommt gleich«, ertönte es plötzlich hinter ihm.
Jon schrak zusammen und drehte sich zu der Stimme um. Halb versteckt hinter einem Regal stand eine rothaarige Frau mit einer schwarzen Jacke und einem bordeauxroten Kleid. Ihre Hand lag so auf dem Rand des Regals, dass ihr Mund und ihre Nasenspitze verdeckt waren. Einzig die roten Haare und die leuchtend grünen Augen waren zu erkennen, die ihn kühl betrachteten.
Jon nickte ihr zu und wollte gerade antworten, doch da hatte sie sich bereits wieder hinter das Regal zurückgezogen. Im vorderen Teil des Ladens stand ein langer Tisch, auf dem die neu erworbenen Bücher ausgestellt waren. Unter dem Vorwand, die Neuheiten studieren zu wollen, ging er am Tisch entlang auf das Regal zu, hinter dem die Frau verschwunden war. Sie stand etwa in der Mitte des Ganges und hatte ihm den Rücken zugekehrt, so dass Jon erkennen konnte, dass ihre roten Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengefasst waren, der ihr bis zur Mitte des Rückens reichte. Mit leichten, katzenartigen Bewegungen strich sie am Regal entlang, wobei sie mit der Spitze ihres Zeigefingers über Buchrücken strich, als läse sie Blindenschrift oder wäre auf der Suche
nach Unebenheiten. Es sah nicht so aus, als würde sie die Titel der Bücher lesen, an denen sie vorbeiging. Sie erinnerte eher an eine Blinde, die sich auf bekanntem Terrain befand.
Ein paar Mal hielt sie inne und legte die ganze Handfläche auf einen Buchrücken, als wollte sie dem Werk so seine Geschichte entlocken. Am Ende des Regalgangs bog sie in den nächsten Gang ein, aber nicht ohne vor ihrem erneuten Verschwinden einen kurzen Blick auf Jon zu werfen.
Der richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die Bücher vor ihm. Eine bunte Mischung aus Belletristik und Sachbüchern, sowohl Taschenbücher als auch Hardcover. Bei einigen handelte es sich um beinahe neue, jungfräuliche Exemplare ohne Kratzer oder Eselsohren, während andere ganz offensichtlich Strandurlaube oder längere Rucksackreisen hinter sich hatten.
Bis Jon groß genug gewesen war, um selbst lesen zu können, hatte es zu seinen Lieblingsbeschäftigungen gehört, die neu hinzugekommenen Bücher auf Lesezeichen zu durchstöbern. Im Laufe der Zeit hatte er eine regelrechte Sammelmanie entwickelt, so wie andere Menschen Briefmarken oder Münzen sammeln, und ihre Vielfalt war ebenso groß. Manchmal handelte es sich um offizielle Lesezeichen, rechteckige Pappstreifen, auf die ein Motiv gedruckt war, das mitunter sogar etwas mit dem Buch zu tun hatte. In anderen Büchern steckten neutrale, einfache Papierfetzen, Schnüre, Gummis oder Geldscheine. Wieder andere Lesezeichen verrieten indirekt etwas über die Gewohnheiten oder Interessen des Lesers. Das konnten Quittungen sein, Mehrfahrtenkarten, Kino- oder Theaterkarten, Einkaufszettel, Kontoauszüge oder Zeitungsausschnitte. Manchmal fanden sich aber auch persönlichere Dinge als Lesezeichen, wie Visitenkarten, Zeichnungen, Briefe, Postkarten oder Fotografien. Vielleicht war der Brief oder die Karte von einem Geliebten, und dem Foto konnte ein Gruß
oder eine Erklärung auf der Rückseite folgen, während die Zeichnung vielleicht das Geschenk eines Kindes war.
Abgesehen von den Geldscheinen, die Jon in der Regel auch behalten durfte, wurden alle Lesezeichen in einer Holzkiste gesammelt, die unter dem Ladentisch stand. Wenn ihm als Kind nichts anderes einfiel, nahm er sich diese Kiste vor, breitete die Lesezeichen wie Spielkarten auf dem Fußboden aus und spann die Geschichten weiter, die sie in ihm wachriefen.
Die Glocke über der Tür klingelte, und herein kam Iversen mit einem roten Pizzakarton in der Hand. Er lächelte breit, als er Jon erkannte, begrüßte
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