Die Bibliothek der Schatten Roman
zu einer Anstellung als Strafverteidiger bei Hanning, Jensen & Halbech verholfen hat, wo ich jetzt noch arbeite.«
Jon schwieg und stellte fest, dass er nichts hinzuzufügen hatte. Nicht weil es nicht mehr zu erzählen gab - natürlich hätte er von Reiseerlebnissen berichten können, von den Qualen des Studiums, dem Kampf um seine Position in der Firma oder dem Remer-Fall, der ihm völlig unerwartet in den
Schoß gefallen war. Aber warum sollte er Iversen nach so vielen Jahren einbeziehen, und das jetzt, wo sie sich nach Lucas Tod doch bald vollends aus den Augen verlieren würden?
»Wie du siehst, hatte ich nicht gerade viel mit Literatur zu tun«, fügte er mit einem Schulterzucken hinzu.
»Vielleicht nicht direkt Literatur«, räumte Iversen zwischen zwei Bissen ein. »Aber das geschriebene Wort hat für uns beide große Bedeutung. Wir sind beide von Büchern abhängig.«
Jon nickte.
»Man kann inzwischen zwar das meiste auch elektronisch bekommen, aber du hast Recht. Jeder in der Branche hat irgendwo einen Karnov stehen. In gewisser Weise haben so ein paar dicke Wälzer einfach mehr Würde als eine CD-Rom.« Er breitete die Arme aus. »Deshalb gehe ich auch davon aus, dass man Antiquariate wie dieses immer brauchen wird.«
Iversen schluckte das letzte Stück Pizza.
»Dessen bin ich mir sicher.«
»Was uns zum Grund meines Besuchs zurückbringt«, sagte Jon sachlich. »Du wolltest mir etwas erzählen?«
»Lass uns in die Bibliothek gehen«, forderte Iversen ihn auf und zeigte auf die Eichentür. »Da herrscht mehr … Atmosphäre.«
Sie erhoben sich und traten auf den Flur. Als Kind hatte sich Jon nie ohne Begleitung von Luca oder Iversen im Keller aufhalten dürfen, und hinter der dicken Eichentür, auf die sie jetzt zugingen, war er nie gewesen. In seiner Vorstellung war dieser Raum immer eine Schatzkammer oder ein Kerker gewesen. Wie sehr er auch darum gebettelt hatte, nie war ihm damals Zugang gewährt worden. Die Tür war immer verschlossen geblieben, weshalb er schließlich das Fragen und Bitten aufgegeben hatte.
Iversen zog einen Schlüsselbund aus der Tasche und suchte einen schwarzen Bartschlüssel heraus. Die Tür knarrte stimmungsvoll,
als er sie öffnete, und Jon spürte ein leichtes Zittern in den Nackenhaaren.
»Das ist die Campelli-Sammlung«, verkündete Iversen und verschwand im Dunkel hinter der Tür. Kurz darauf ging das Licht an, und Jon trat ein. Der Raum hatte eine niedrige Decke, war etwa 30 Quadratmeter groß und mit einem dicken, dunklen Teppich ausgelegt. In der Mitte des Raumes standen vier bequeme Sessel um einen niedrigen, dunklen Holztisch. Die Wände waren von Regalen und Vitrinenschränken bedeckt, die voll mit Büchern waren. Fast alle hatten Ledereinbände, die durch die indirekte Regalbeleuchtung so golden schimmerten wie der Rest des Raumes.
Jon stieß einen leisen Pfiff aus.
»Beeindruckend«, sagte er und fuhr mit der Hand über ein paar Buchrücken. »Nicht, dass ich etwas davon verstehe, aber das ist wirklich ein fantastischer Anblick.«
»Ich kann dir versichern, dass es noch fantastischer ist, wenn man etwas davon versteht«, meinte Iversen. Er lächelte stolz und ließ seinen Blick über die Bücher schweifen. »Die Sammlung wurde von deinem Vater und seinen Vorfahren über Jahrhunderte zusammengetragen. Viele von diesen Werken sind in ganz Europa herumgekommen, bis sie hier gelandet sind.« Vorsichtig zog er ein Buch heraus und liebkoste das gegerbte Leder mit den Fingerspitzen. »Wenn ich sie nur sprechen hören könnte«, murmelte er. »Eine Geschichte in der Geschichte der Geschichte.«
»Sind sie wertvoll?«
»Sehr«, nickte Iversen. »Nicht unbedingt im materiellen, aber im ideellen und bibliographischen Sinn.«
»Und das ist nun das große Geheimnis?«, fragte Jon.
»Ein Teil davon«, antwortete Iversen. »Setz dich, Jon.« Er deutete auf die Ledersessel und drückte die Tür zu. Sobald sie zu war, fühlte man sich wie in einem Tonstudio oder unter einer Käseglocke. Kein Geräusch von außen störte die Atmosphäre
der Bibliothek, und Jon kam es so vor, als würde auch von drinnen kein Laut nach draußen dringen, wie laut man auch riefe. Er nahm Platz, legte die Ellenbogen auf die Armlehnen und faltete die Hände.
Iversen setzte sich ihm gegenüber und räusperte sich, ehe er begann.
»Was ich dir jetzt erzähle, hätte dir irgendwann auch dein Vater erzählt, das musst du vorab wissen. Luca selbst ist irgendwann auch so von seinem Vater
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