Die Bibliothek der Schatten Roman
Arman eingeweiht worden. Er hätte es schon längst machen sollen, aber das Klima zwischen euch war für solche Bekenntnisse ja nicht unbedingt geeignet.«
Jon sagte nichts und ließ sich auch äußerlich nichts anmerken.
»Aber darauf will ich nicht näher eingehen«, fügte Iversen schnell hinzu. »Was ich sagen möchte, ist, dass ich - wie auch immer es dazu gekommen ist - stolz darauf bin, dich in das Geheimnis, das ich dir jetzt offenbaren werde, einweihen zu können.«
Iversens Stimme zitterte ein wenig, und er holte tief Luft, ehe er fortfuhr.
»Du hast selbst erlebt, was für ein fantastischer Vorleser dein Vater war, genau wie sein Vater vor ihm. Ich selbst bin, wenn ich das sagen darf, auch nicht so schlecht, aber nichts im Vergleich zu Luca.« Iversen machte eine Pause. »Was glaubst du? Was macht einen guten Vorleser aus, Jon?«
Trotz all der Jahre, in denen sie sich nicht gesehen hatten, kannte Jon Iversen zu gut, um von der Frage überrascht zu sein. Er dachte unwillkürlich an all die Stunden, in denen Iversen auf dem grünen Sessel hinter dem Ladentisch thronte und ihn über die Geschichten ausfragte, die er ihm zuvor vorgelesen hatte. Immer wollte er wissen, was Jon von den Geschichten, ihren Personen und den Beschreibungen hielt.
Er zuckte mit den Schultern.
»Übung, Einfühlungsvermögen und zu einem gewissen Grad Schauspielerei«, antwortete er, ohne seinen Blick von Iversen zu nehmen.
Iversen nickte.
»Je mehr man liest, desto besser gelingt es einem, das richtige Tempo zu finden und an den passenden Stellen Pausen zu machen. Ist man geübter, geht einem auch die Sprache leichter über die Lippen, und man hat mehr Spielraum, die beiden anderen Eigenschaften zu nützen, die du erwähnt hast: Einfühlungsvermögen und Schauspieltalent. Es ist kein Zufall, dass häufig Schauspieler im Radio vorlesen.«
Iversen beugte sich zu Jon vor.
»Aber manche Menschen haben noch eine weitere Trumpfkarte, die sie ausspielen können, um es mal so auszudrücken.« Er machte eine dramatische Pause.
»Einen Text zu lesen ist keine angeborene Fähigkeit. Es liegt nicht in unseren Genen, Buchstaben zu entziffern. Es ist unnatürlich - eine künstliche Fähigkeit, die wir uns in den ersten Schuljahren mehr oder weniger erfolgreich aneignen.« Er warf einen Blick nach oben, wo Katherina vermutlich noch immer zwischen den Regalen herumtanzte. »Beim Lesen werden verschiedene Bereiche unseres Gehirns aktiviert. Es geht darum, bestimmte Symbole und Muster wiederzuerkennen, sie mit Lauten zu verbinden, diese zu Silben zusammenzusetzen und schließlich den Sinn der Worte zu deuten. Zu guter Letzt müssen die Worte dann noch in Relation zu den anderen gesetzt werden, um die Bedeutung eines Textes verstehen zu können …«
Jon ertappte sich dabei, wie er ungeduldig mit dem Fuß wippte, und zwang sich, es zu unterlassen.
»Natürlich ist das, was ich dir hier sage, im Grunde genommen banal«, entschuldigte sich Iversen. »Aber es ist etwas, worüber wir eigentlich nie nachdenken. Ich will damit bloß unterstreichen, wie kompliziert der Prozess des Lesens
eigentlich ist. Das Umsetzen der Worte auf dem Papier in den Laut, der deine Lippen verlässt. Viele verschiedene Bereiche des Gehirns sind involviert in die Umwandlung des gelesenen Wortes in Laute beziehungsweise in Verständnis, wenn man leise für sich selbst liest. Und eben in diesem Zusammenspiel können fantastische Dinge geschehen.«
Iversens Augen strahlten jetzt, als wäre er kurz davor, ein bis jetzt unbekanntes Kunstwerk zu enthüllen.
»Bei sehr wenigen von uns umfasst diese Gehirnaktivität auch Bereiche, die einen in die Lage versetzen, die Zuhörer psychisch zu beeinflussen.«
Jon zog eine Augenbraue hoch, aber diese Reaktion reichte anscheinend nicht, um Iversen zum Weiterreden zu verleiten.
»Wie meinst du das?«, hakte Jon nach. »Dass die Menschen von dem gerührt sind, was ihr vorlest? Ist das denn nicht bloß eine Frage der Technik?«
»Zu einem gewissen Teil schon«, räumte Iversen ein. »Aber es geht noch viel weiter. Wir sind in der Lage, Menschen zu beeinflussen, ohne dass sie sich selbst darüber bewusst werden. Wir können zum Beispiel beeinflussen, in welcher Weise ein Text auf sie wirkt, welches Thema sie wahrnehmen und vieles mehr.«
Jon musterte den Mann. Entweder war er verrückt oder er machte Witze. Aber Iversen war nicht die Art Mensch, der Witze über Literatur machte.
»Wenn wir wollen, können wir dafür sorgen,
Weitere Kostenlose Bücher