Die Bibliothek der Schatten Roman
Tochter besuchen, die bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren.
Jon konzentrierte sich auf die Szene, und vor seinem Blick verwandelte sich der Lesesaal in Alexandria allmählich in einen ruhigen Friedhof. Die Säulen wurden zu den Buchen an der Friedhofsmauer, und die Ordensmitglieder verwandelten sich in die Grabsteine um ihn herum. Ein leichter Wind wehte einen Hauch von Frühling heran. Die Sonnenstrahlen wurden von den vielen Grabsteinen und den Zweigen der Bäume gebrochen, die scharfe Schatten auf die Erde warfen. Jon hatte den Punkt erreicht, an dem die Zeit nur noch kroch, was ihm Gelegenheit gab, die Szene exakt so zu beeinflussen, wie es ihm passte.
Die Hauptfigur legte einen Strauß Blumen auf das Grab seiner Liebsten und kniete sich vor den Stein. Das Gras war feucht, und die Nässe drang durch den Hosenstoff, aber er nahm es nicht wahr. Der Wind nahm zu, und die Blätter in den Baumkronen raschelten an den schwankenden Ästen.
Der Witwer streckte die Hand aus und legte sie auf den Grabstein.
An dieser Stelle änderte sich die Szenerie blitzartig, und Jon verstärke die Schärfe und erhöhte die Geschwindigkeit. Der Mann, seine Frau und ihre Tochter saßen in einem Auto. Es war Nacht, sie waren auf dem Weg nach Hause. Das Paar stritt sich. Das Kind weinte. Plötzlich tauchten ohne Vorwarnung Scheinwerfer vor der Windschutzscheibe auf und blendeten sie. Das Kreischen des Metalls und das Splittern des Glases war nicht laut genug, um die Schreie aus dem Wagenfond zu übertönen. Lichtblitze und Bilder folgten schnell aufeinander, während das Auto sich überschlug und die Insassen und das Gepäck herumgeworfen wurden.
Zurück auf dem Friedhof.
Jon versuchte abzuschätzen, ob er zu viel Druck ausgeübt hatte. Auch wenn er sich an das abgesprochene Niveau hielt, konnte der abrupte Wechsel für einige schwer zu bewältigen sein. Der Friedhof war im Vergleich zu der Flashbackszene im Auto ruhig und sehr, sehr still. Das klaustrophobische Gefühl aus dem Wageninneren wurde durch die Weite des Friedhofes abgelöst. Jon ließ dunkle Wolken am Horizont aufziehen. Der Wind nahm weiter an Stärke zu und wirbelte Blätter durch die Luft.
Er vernahm einen leichten Ruck in der Szene, wie wenn ein einzelnes Bild aus einem Filmstreifen geschnitten worden wäre. Er erkannte darin das Signal eines Empfängers, aber nicht irgendeines Empfängers. Das konnte nur Katherina sein - er spürte es genau.
Als Jon die Flashbackszene las, leuchtete eine kleine blaue Flamme auf und schlängelte sich über seinen schwarzen Umhang, bevor sie auf die Lichtquelle über seinem Kopf übersprang. Die Umstehenden wichen erschrocken zurück, und die ersten besorgten Ausrufe ertönten. Remer hob die Arme in einer beruhigenden Geste.
»It’s okay«, sagte er laut. »This is what we have been waiting for.«
Das Murmeln verebbte, und die Sender, die erschrocken aufgehört hatten zu lesen, stiegen zögernd wieder ein. Katherina sah die unruhigen Blicke einiger Anwesender, einige Personen wichen sogar ein Stück vom Rednerpult zurück.
Jon fuhr unbeeindruckt mit der Lesung fort, er schien nicht zu ahnen, was um ihn herum passierte. Seine Stimme war ruhig, gefasst und verführerisch. Das schien die Zuhörer zu beruhigen, selbst als erneut kleine Flammen über seinen Umhang huschten.
Katherina sah sich hektisch um. Wo blieben die beiden anderen? Wenn nicht bald Henning und Muhammed auftauchten, um das Ritual zu beenden, war es zu spät, dann war die Reaktivierung abgeschlossen, das spürte sie. Die Luft um sie herum pulste vor Energie, die Kerzenflammen flackerten, obgleich kein Windzug im Saal wahrzunehmen war, und es kam ihr so vor, als wäre es kälter geworden. Katherina bezweifelte nicht mehr, dass diese Séance einen Effekt haben würde, wusste aber nicht, was sie erwartete.
Diejenigen in der Versammlung, die nicht mitlasen, beobachteten wie gelähmt das Phänomen vor ihren Augen. Gegen so viele Empfänger auf einmal, die alle in dieselbe Richtung zogen, konnte Katherina nichts ausrichten. Jons Vortrag wurde von einer mächtigen Welle getragen, die zum einen aus den uralten Kräften der Bibliothek gespeist wurde, zum anderen aus der Unterstützung von Sendern und Empfängern.
Katherina schloss die Augen. Sie konnte nichts anderes tun, als sich mitziehen zu lassen und sich auf Jons Vortrag zu konzentrieren. Wie bei ihrem gemeinsamen Training, das ihr Ewigkeiten weit weg schien. Jon hatte einen ganz persönlichen Stil in
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