Die Bibliothek der Schatten Roman
noch immer hinter dem Rednerpult stand.
Remer lud den lateinischen Text ohne Zweifel auf, aber da sie nicht verstand, was er las, hatte dies keine Wirkung auf sie. Anders als bei ihrem Nachbarn, einem ziemlich kräftigen Herren, dessen Umhang nur knapp um seinen üppigen Leibesumfang passte. Er hatte begonnen, sich leicht hin und her zu wiegen. Der Kopf unter der Kapuze nickte eifrig zu einigen Passagen des Textes. Als sie sich umschaute, stellte sie fest, dass mehrere Zuhörer sich wie ihr Nachbar benahmen. Die meisten verhielten sich jedoch ruhig und lauschten der Lesung.
Katherina konzentrierte sich darauf, wie Remer seine Fähigkeiten einsetzte. Er war ein geschickter Sender, möglicherweise sogar besser als Luca. Die Beeinflussung war scheinbar mühelos und ganz gleichmäßig, als würde er durch ausdauerndes, leises Pusten einen kräftigen Sturm aufbauen. Als sie sich noch ein wenig mehr konzentrierte, stieß sie auf die Ursache: Etliche Zuhörer hatten ihre Fähigkeiten konzentriert und unterstützten seine Lesung mit vereinten Kräften. Bei so vielen Beteiligten ein ziemlich schwieriges Unterfangen, das große Einigkeit darüber verlangte, was der Text kommunizieren sollte. Das kleinste Zögern oder die geringste Fehlinterpretation konnten die Illusion zerplatzen lassen. Katherina wusste aus ihrem Training in der Empfängergruppe, wie schwierig so etwas war. Aber die Leute hier waren derart konzentriert, dass nicht die geringste Unsicherheit im Vortrag zu spüren war.
Der letzte Satz, den Remer las, wurde von allen Anwesenden laut wiederholt. Er schaute in die Runde, nickte kurz und verließ das Rednerpult. Katherina sah ihn ein paar Worte mit Jon wechseln, welcher kurz darauf seinen Platz auf dem
Podium einnahm. Die Leute rundum wurden unruhig. Sie wusste nicht, was ihnen erzählt worden war, aber alle wirkten gespannt und ein wenig nervös.
Katherina nutzte die Gelegenheit, um sich ein paar Reihen weiter nach hinten zu setzen. Sie musste auf der Hut sein, für den Fall, dass Jon Remer über ihre Anwesenheit informiert hatte. Remer blieb jedoch entspannt neben Jon stehen und machte nicht den Eindruck, besonders wachsam oder beunruhigt zu sein.
Aus der ersten Reihe trat eine Gruppe von etwa zehn Leuten näher an das Rednerpult heran. Jeder von ihnen hielt ein schwarzes Buch in der Hand. Sie schlugen es auf, ehe sie zu Jon hochsahen. Katherina entdeckte auch unter den Sitzenden einige mit Büchern ausgerüstete Lettori.
Jon räusperte sich und begann zu lesen.
Als Jon seinen Vortrag begann, vernahm er ein warmes, vibrierendes Gefühl, als würde er sich in eine Wanne mit heißem Badewasser sinken lassen. Er wurde von Kräften empfangen und umschlossen, die alle mit ihm arbeiteten, ihn stützten und trugen, wohin er wollte. Die rastlose Energie des Buches schien sich mit der Spannung des Lesesaals zu vereinen und wurde noch verstärkt durch die anwesenden Empfänger. Er erkannte Patrick Vedels Unterstützung wie eine warme Hand auf seiner Schulter. Dieser Einfluss war - wohl bedingt durch die Anspannung - etwas nachdrücklicher als in ihren Übungsstunden.
Jon begann langsam und gleichmäßig, um es den Lettori leichter zu machen. Als die Sender, die am Rednerpult standen, in die Lesung einstiegen, spürte er den nächsten Energieschub. Er hatte mit Remer und Poul Holt über den Ablauf der Séance gesprochen, welche Phasen sie durchlaufen mussten, um die bestmögliche Ausbeute zu erreichen. Es war wichtig, am Anfang nicht zu sehr vorzupreschen, sondern sich Zeit zu
lassen, den Rhythmus des Textes zu finden und seine Gedanken zu bündeln. Das war aber leichter gesagt als getan. Der Anblick dieser Person unter den Zuhörern, die er für Katherina hielt, störte seine Konzentration. War sie es wirklich, oder spielte ihm seine Fantasie einen Streich? Auf jeden Fall war er so verunsichert, dass er Remer nichts davon sagte, als sie die Plätze tauschten.
Als Jon hinter dem Rednerpult stand, konnte er Katherina nicht mehr entdecken. Ihr Platz war leer. Er war nicht sicher, ob ihn das eher beruhigte oder verunsicherte.
Die Szene, die Jon las, spielte auf einem Friedhof. Der Text war gut strukturiert, was das laute Lesen zu einem Kinderspiel machte und wunderbare Möglichkeiten bot, die Situation so zu gestalten, wie er es wollte. Er hatte den Text vorher gelesen, kannte das Milieu und wusste, welche Stimmung er vermitteln wollte. Es war ein sonniger Tag, und der Protagonist wollte das Grab seiner Frau und
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