Die Bibliothek der Schatten Roman
seinen Betonungen und einen ungewöhnlichen Energiepuls, den sie immer und überall wiedererkennen würde.
Sie spürte, dass die meisten Empfänger sich bereits auf ebendiesen Puls eingestimmt hatten.
Vielleicht war es gar nicht gut, ihn zu bremsen?
Sie schlug die Augen auf und sah zum Rednerpult. Jon stand regungslos da wie eine Statue. Nur der Klang seiner Stimme und die Bewegung seiner Lippen bezeugten, dass er bei Bewusstsein war. Der Umhang fungierte fast als eine Art Leinwand, auf die die immer wieder auftauchenden Flammen ein kompliziertes Muster malten. Katherina begann einen Zusammenhang zwischen der Frequenz des Musters und Jons Energiepuls zu erkennen. Als sie ihre Fähigkeiten auf die optischen Phänomene konzentrierte, begann sie den Rhythmus zu verstehen und konnte bald voraussagen, wann die nächste Entladung kam. Sie atmete tief ein und wartete.
Mit einer mentalen Kraftanstrengung erhöhte sie Jons Pulsschlag noch ein wenig und spürte einen gewaltigen Energieschub. Im gleichen Moment schoss eine gewaltige elektrische Entladung von Jons Körper in eine der Lampen über ihm. Funken sprühten und rieselten wie glühende Schneeflocken auf sie herab.
Die Leute um Katherina wichen instinktiv zurück, manche liefen weg, doch noch blieben die meisten an ihren Plätzen, fasziniert von dem Schauspiel und der unwiderstehlichen Anziehungskraft der Erzählung.
In der Bilderflut, die Jon aussandte, empfing Katherina plötzlich ein Bild von sich selbst.
Es war, als würden Dias in so schneller Folge auf die Szene projiziert, dass er nichts erkennen konnte, doch er war sich sicher, dass diese Bilder von ihr kamen. Jon spürte ihre Anwesenheit, und das störte seine Konzentration. Sie richtete augenblicklich alle Kräfte darauf, diese Bilder aufzuladen, und immer häufiger sah er sich selbst mit ihr im Libri di Luca, in Kortmanns Garten, im Bett oder im Profil hinter einem Autofenster.
Katherina zögerte nicht, Gefühle wie Sehnsucht, Liebe und Geborgenheit in den auftauchenden Bruchstücken zu verstärken.
Es dauerte nicht lange, bis sie eine Reaktion wahrnahm. Nach und nach füllten sich die Bilder mit einer Wärme und Glut, die von Jon kam, nicht von ihr. Überrascht stellte sie fest, dass ihr Gesicht nass von Tränen war. Bedeutete das, dass sie zu ihm durchgedrungen war?
Vielleicht war es Wunschdenken, aber sie glaubte eine Veränderung in Jons Körperhaltung zu erkennen. Es sah aus, als wollte er den Kopf drehen, aber als würde ihn etwas daran hindern.
Katherina machte einen Schritt nach vorn und erstarrte.
Remer hatte die Position verändert. Er stand aufrechter als vorher, fast versteinert, und starrte in den Text, ohne ein einziges Mal zu blinzeln. Er schien nicht mehr wahrzunehmen, wo er sich befand oder was um ihn herum vorging. Aber was Katherina viel mehr Angst einjagte, waren die kleinen, schwarzen Flammen, die über seinen weißen Umhang huschten.
VIERZIG
V on dem Augenblick an, in dem Jon sicher wusste, dass Katherina sich im Lesesaal befand und versuchte, mit ihm zu kommunizieren, wurde er von Erinnerungen überwältigt. Bilder von ihnen beiden, die er nicht ignorieren konnte, tauchten in seinen Gedanken auf. Er musste wieder daran denken, wie glücklich sie gewesen waren und dass er sich wohler gefühlt hatte als jemals zuvor in seinem Leben, und ganz allmählich wuchs der Wunsch in ihm, zu diesem Zustand zurückzufinden. Die Lesung ging weiter, aber er verwendete weniger Energie darauf, den Text aufzuladen, damit er sich einen Freiraum für seine Erinnerungen schaffen konnte. Was hatte sie auseinandergebracht?
Er sah vor sich, wie er sie nach dem Test im Schulkeller weggeschickt hatte, um sie zu schützen. Danach hatte sich die gleiche Ohnmacht in ihm breitgemacht wie bei der ersten Lesung mit Poul Holt, bei der er sich schließlich ergeben hatte.
Mit einem Mal hatte er das Gefühl, aus einem Albtraum zu erwachen.
Was tat er hier?
Jon wollte die Lesung abbrechen, konnte aber nicht. Jemand hielt ihn fest, wie Katherina es getan hatte, als sie im Libri di Luca zum ersten Mal ihre Fähigkeiten als Empfänger demonstriert hatte. Eine dieser Personen war Patrick Vedel, das spürte er, aber Vedel war nicht der Einzige. Jon hatte keine andere Wahl, als weiterzulesen, achtete aber von nun an genauer darauf, wie er den Text betonte.
Der Protagonist befand sich nach wie vor auf dem Friedhof. Er hatte begonnen, mit dem schwarzen Grabstein zu reden.
Jon ließ bleigraue Wolken über das
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