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Die Bibliothek der Schatten Roman

Die Bibliothek der Schatten Roman

Titel: Die Bibliothek der Schatten Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mikkel Birkegaard
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dass jemand seine Meinung zu einem bestimmten Thema ändert, um das es in dem Text geht. Wir könnten zum Beispiel einen katholischen Priester dazu bringen, sich für die Abtreibung einzusetzen.« Iversen lächelte, doch nichts deutete darauf hin, dass er nicht ernst meinte, was er sagte.
    »Wie soll das gehen?«, fragte Jon.
    »Tja, ich bin nicht unbedingt der Geeignetste, um dir das zu erklären, aber ich will versuchen, dir das übergeordnete
Prinzip zu erläutern, die Details müssen dir dann andere erklären.« Er räusperte sich, ehe er fortfuhr. »So wie ich es verstehe, geht es darum, dass sich bei allen Menschen eine Art Kanal öffnet, in dem die Informationen verarbeitet, klassifiziert und verteilt werden, die zum Beispiel beim Lesen aufgenommen werden, beim Vorlesen, beim Fernsehen, wo auch immer. In dieser Phase wird auch die Akzentuierung vorgenommen, indem man das Empfangene mit der Darbietung, früheren Erfahrungen, Haltungen und Überzeugungen vergleicht und analysiert. Dieser Prozess entscheidet in der Tat, ob uns die Musik, die wir hören, berührt oder ob wir mit dem, was uns der Redner sagt, einverstanden sind oder nicht.«
    »Und diese … Akzentuierung könnt ihr kontrollieren?«, unterbrach ihn Jon.
    »Genau«, antwortete Iversen. »Wer sich auf diese Kunst versteht, nennt sich Lettore. Wir können einen Text beim Lesen so akzentuieren und aufladen, dass wir das Erleben des Zuhörers und seine Haltung zum Vorgelesenen beeinflussen können.«
    Jon wurde langsam ärgerlich. Er war es nicht gewohnt, sich mit Gefühlen und unbewiesenen Behauptungen auseinanderzusetzen. In seiner Welt war es sinnlos, sich mit einer Sache zu beschäftigen, die nicht durch glaubwürdige Zeugenaussagen, Fakten oder sichere Indizien bestätigt werden konnte. Doch hier ging es einzig und allein um den Glauben an etwas, und das passte ihm ganz und gar nicht.
    »Kannst du irgendetwas davon beweisen?«, fragte Jon.
    »Es ist keine exakte Wissenschaft, und es gibt viele Dinge, die wir selbst noch nicht ganz verstehen. So hat sich zum Beispiel gezeigt, dass sich bestimmte Arten von Texten besser eignen als andere. Belletristik ist besser geeignet als Fachliteratur, und auch die Qualität des Textes ist nicht unwesentlich. Noch merkwürdiger ist aber, dass das Potenzial eines Textes davon abhängen kann, ob er von einem Bildschirm, einer billigen
Kopie oder einer Erstausgabe gelesen wird. Bei einer Erstausgabe ist die Wirkung am kräftigsten. Und wir haben beobachtet, dass gewisse Bücher beim Lesen aufgeladen werden, so dass der Text beim nächsten Vortrag umso stärker wirkt - das heißt, er wird effektiver, was die Vermittlung der Botschaft und der Gefühle betrifft. Ältere und häufig gelesene Bände sind deshalb stärker als neue, jungfräuliche Bücher.« Iversen wandte seinen Blick von Jon ab und ließ ihn über die Wände schweifen.
    Jon stand auf und trat an eines der Regale.
    »Sind diese Bücher aufgeladen?«, fragte er skeptisch und zog wahllos ein Buch heraus.
    »Viele davon«, antwortete Iversen. »Man spürt es, wenn man ein besonders kräftiges Exemplar in den Händen hält.«
    Jon legte die ganze Handfläche auf das Buch, das er herausgezogen hatte. Nach ein paar Sekunden schüttelte er den Kopf, stellte es zurück und wiederholte das Gleiche mit einem anderen Buch.
    »Ich spüre nichts«, stellte er resigniert fest.
    »Natürlich muss man dafür im Besitz dieser Gabe sein«, erklärte Iversen. »Und ein bisschen Übung braucht es auch.«
    Jon stellte das Buch zurück und wandte sich Iversen zu.
    »Und wie weiß man, ob man diese Gabe hat? Wie wird man Lettore?«
    »Man wird so geboren«, antwortete Iversen kurz. »Das ist nichts, was man von Grund auf lernen oder für das man sich entscheiden kann. Dein Vater hat es von seinem Vater Armand geerbt, der es wiederum von seinem Vater hatte und so weiter. Deshalb ist es ziemlich wahrscheinlich, dass du diese Fähigkeit von Luca geerbt hast.«
    Er machte eine Pause, ehe er seine Pointe vorbrachte.
    »Du könntest auch ein Lettore sein, Jon.«
    Jon starrte Iversen ungläubig an. Das Lächeln auf den Lippen des alten Mannes war verschwunden, sein Gesicht war
ganz ernst, was gar nicht zu diesem sonst so freundlichen Mann passte. Jon deutete mit beiden Armen auf die Regale rundherum.
    »Aber ich habe doch gesagt, ich spüre nichts.«
    »Bei den meisten schlummern diese Fähigkeiten im Verborgenen«, erwiderte Iversen. »Einige bemerken sie nie, andere werden aktiv

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