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Die Bibliothek der Schatten Roman

Die Bibliothek der Schatten Roman

Titel: Die Bibliothek der Schatten Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mikkel Birkegaard
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geboren, während bei wenigen Ausnahmen die Fähigkeit ganz zufällig aktiviert wird. Die meisten zeigen aber schon ein gewisses Talent in dieser Richtung, entweder was ihre Berufswahl oder die Art und Weise angeht, wie sie ihre Profession umsetzen.« Er sah Jon fragend an. »Was ist mit dir, Jon? Hast du Situationen erlebt, in denen dein Lesen die Menschen beeinflusst oder mitgerissen hat?«
    Obgleich Jon das Gefühl hatte, Menschen zu beeinflussen, wenn er seine Plädoyers vorbrachte, hatte er nie irgendetwas Besonderes bemerkt. Keine besonderen Kanäle, Energien oder Aufladungen - für ihn war das alles nur eine Frage der Technik, nichts weiter.
    »Vielleicht kann ich ein bisschen besser lesen als die meisten anderen«, räumte Jon ein. »Aber dass muss nichts zu sagen haben.«
    Iversen schüttelte den Kopf.
    »Muss es nicht. Man kann durchaus ein talentierter Vorleser sein, ohne Lettore zu sein.«
    Jon verschränkte die Arme.
    »Und Luca war Lettore?«
    Iversen nickte.
    »Der Beste.«
    »Und die Freunde von Libri di Luca … sind das alles … Lettori?«
    »Die meisten ja«, antwortete Iversen.
    Jon musste an die Leute in der Kapelle denken und versuchte, sie sich als eine verschworene Gemeinschaft vorzustellen und nicht bloß als die wahllos zusammengekommene
Gruppe von Trauernden, die er in ihnen gesehen hatte. Er schüttelte den Kopf.
    »Es gibt da noch etwas, das ich nicht verstehe«, sagte er. »Wenn sich alles ums Lesen dreht … was macht dann eine Legasthenikerin hier?«
    »Katherina?«, fragte Iversen und lächelte. »Sie ist ein Kapitel für sich.«

FÜNF
    K atherina setzte sich auf den oberen Treppenabsatz und zog die Beine an den Körper, so dass sie das Kinn auf die Knie legen konnte. Von diesem Platz aus hatte sie den ganzen Laden im Blick, insbesondere den Eingang. Selbst eine Woche nach Lucas Tod erwartete sie noch immer, dass die Tür sich plötzlich öffnete und der kleine Italiener mit zufriedenem Gesichtsausdruck sein Antiquariat betrat. Als käme er nach Hause, und nicht, als trete er einen neuen Arbeitstag an. Ein Gefühl, das sie auch selbst in den letzten Jahren empfunden hatte, wenn sie die Tür aufmachte und das einladende Läuten der Türglocke sie empfing. Dieses Geräusch versetzte sie unmittelbar in einen anderen Sinneszustand, einen Zustand der Ruhe und Sicherheit, und sie stellte sich vor, dass es Luca genauso ging.
    Aber von nun an würde alles anders sein.
    Ihr Blick fiel auf den ausgebesserten Geländerabschnitt. Der Tischler, ein Bekannter von Iversen, hatte sich alle Mühe gegeben, Holz im Farbton des alten Geländers zu wählen, aber man sah deutlich, dass die Reparatur noch nicht lange zurücklag. Es würde sicher ein paar Jahre dauern, bis der Unterschied nicht mehr zu erkennen war.
    Katherina konnte die Stimmen von Iversen und Lucas Sohn nicht mehr hören und nahm an, dass die beiden sich in die Bibliothek zurückgezogen hatten. Unmittelbar nach Lucas Tod hatte sie zum ersten Mal von seinem Sohn gehört. Diese Neuigkeit hatte sie ziemlich kalt erwischt. Nach zehn Jahren im Laden und einer, wie sie selbst es einschätzte, engen
Freundschaft zu Iversen und Luca fühlte sie sich irgendwie ausgeschlossen. Iversen beteuerte, Luca habe sicher triftige Gründe für seine Geheimniskrämerei gehabt, nicht einmal er wisse alles. Katherina nahm an, dass dieses Verhalten etwas mit dem Tod von Lucas Frau zu tun hatte.
    Bei Lucas Beerdigung hatte sie die Gelegenheit genutzt, sich Jon etwas genauer anzusehen. Tatsächlich hatte er Ähnlichkeit mit seinem Vater, war aber deutlich größer. Die Gesichtszüge waren die gleichen, ebenso die dunklen Augen und dichten Brauen, das fast schwarze Haar. Das bestätigte ihre Vermutung, dass Luca in jüngeren Jahren ein sehr attraktiver Mann gewesen sein musste.
    Katherina war nicht die Einzige, die überrascht darüber war, dass Luca einen Sohn hatte. Als Iversen die Bibliophile Gesellschaft darüber informierte, waren die anderen nicht weniger erstaunt als sie. Es war ein langer Abend geworden, und Iversen erzählte hinterher nur, man habe beschlossen, Lucas Sohn einzuweihen. Katherina sah ihm an, dass ihm diese Entscheidung nicht wirklich passte, bohrte aber nicht weiter nach.
    Wahrscheinlich wurde Jon in diesem Moment unten im Keller eingeweiht. Es war keine leichte Aufgabe, einem Außenstehenden die Zusammenhänge begreiflich zu machen, doch wenn jemand es konnte, dann Iversen. Mit welchem Beispiel er es wohl diesmal zu erklären versuchte? Ob

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