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Die Bibliothek der Schatten Roman

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Titel: Die Bibliothek der Schatten Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mikkel Birkegaard
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er wieder das Bild mit den Kanälen wählte? Katherina hielt diese Erklärung für etwas zu technisch. Sie selbst hatte sich eigene Erklärungen suchen müssen, ehe sie endlich anderen Menschen begegnete, die dasselbe Leiden hatten wie sie - oder dieselbe Gabe, je nachdem, wie man es betrachtete oder zu welchem Zeitpunkt man sie danach fragte.
    Iversens Einstellung dazu unterschied sich von ihrer, weil er ein Sender war. Katherina war Empfängerin. Zwei Seiten einer Medaille, würde Iversen sagen, aber für Katherina bestand
ein eklatanter Unterschied, der nicht durch das Umkehren von Vorzeichen oder das Umdrehen einer Münze erklärt werden konnte. Laut Iversens Darstellung gab es zwei Typen von Lettori. Die einen waren Sender wie er selbst. Sie konnten die Zuhörer einer Lesung beeinflussen und gegebenenfalls ihre Auffassungen und Meinungen ändern. Zum anderen Typ zählte er Empfänger wie Katherina.
    Als sie ihre Fähigkeit das erste Mal bemerkte, war sie nicht bei Bewusstsein. Sie hatte einen Verkehrsunfall gehabt und war wie ihre Eltern mit schwersten Verletzungen ins Krankenhaus eingeliefert worden. Man versetzte sie mehrere Tage in ein künstliches Koma, weil sie zahlreiche Knochenbrüche hatte und ihr zierlicher Körper fast nur noch durch Schrauben und Gips zusammengehalten wurde. In diesem Zustand der Betäubung hatte sie das Gefühl, als lese ihr jemand etwas vor. Durch den Medikamentennebel drang eine klare Stimme, die die Geschichte eines außergewöhnlich passiven jungen Mannes vorlas, der das Leben teilnahmslos vorbeiziehen ließ, ohne jemals Stellung zu dem zu beziehen, was um ihn herum passierte. Trotz des Dämmerzustandes, in dem sie sich befand, fragte sie sich, wem diese ruhige Stimme gehören mochte. Und sie wunderte sich über die merkwürdige Erzählung, die sie nicht so recht verstand. Sie war weder schrecklich noch schön oder spannend, aber die intensive Stimme hielt ihre Aufmerksamkeit gefangen und zog sie in die Geschichte hinein.
    Als sie endlich aus dem Koma aufgeweckt wurde, gab es tausend andere Dinge, an die sie denken musste. Ihre Eltern waren so schwer verletzt, dass sie sie nicht besuchen konnten, und ihre eigenen Verletzungen unter den dicken Verbänden heilten nur langsam - und waren absolutes Tabuthema bei den Verwandten, die sie mit feuchten Augen und zitternder Stimme besuchten.
    Mit dem Bewusstsein kamen die Stimmen. Nicht die Stimme,
die ihr vorgelesen hatte, sondern verschiedene, ineinander verschmelzende Stimmen, die sie tagsüber quälten und nachts vom Schlafen abhielten. Mit den Stimmen blitzten kurze Momentaufnahmen und Eindrücke auf, die ihre ganze Aufmerksamkeit verlangten, um genauso plötzlich wieder zu verschwinden. Eines Tages bat sie die Krankenschwester, ihr das Ende der Geschichte vorzulesen. Sie sehnte sich nach der beruhigenden Stimme, die sie durch die Bewusstlosigkeit begleitet hatte. Die Krankenschwester sah sie verdutzt an. Niemand habe ihr etwas vorgelesen. Zwar habe sie während ihres Komas das Zimmer mit einem älteren Mann geteilt, aber der könne ihr kaum vorgelesen haben, weil ihm wegen Kehlkopfkrebs die Stimmlippen entfernt worden waren.
    Die Familie war sehr verständnisvoll. Die Trennung von ihren Eltern nehme das Mädchen natürlich stark mit, meinten sie, und die Stimmen, die sie zu hören behauptete, waren sicher eine Reaktion auf den schrecklichen Unfall. Der Mutter ging es inzwischen wieder so gut, dass sie ihre Tochter besuchen konnte, während ihr Vater nach wie vor an der Beatmungsmaschine hing und noch immer in Lebensgefahr schwebte. Alle behandelten Katherina mit größter Behutsamkeit und viel Verständnis, doch nachdem sie gemeinsam mit ihrer Mutter entlassen worden war, glaubten die Leute in ihrer Umgebung allmählich, ihr Verstand habe vielleicht doch dauerhaften Schaden genommen.
    Äußerlich war sie mit Narben an Beinen und Armen und einer kleineren Narbe am Kinn davongekommen, einer maskulinen Kerbe in dem ansonsten so mädchenhaften Gesicht. Sie erinnerte Katherina permanent an den Unfall, und häufig fuhr sie mit dem Zeigefinger darüber, während ihr Blick in die Ferne schweifte.
    Ihre Geistesabwesenheit machte der Familie natürlich Sorgen, daher wurde sie zu einem Jugendpsychologen geschickt, der nicht viel mehr ausrichten konnte, als ihr Pillen zu verschreiben,
eine Lösung, die zumindest die Stimmen auf Distanz hielt, aber eben auch alle anderen Sinneseindrücke.
    Aus ebendiesem Grund bekam sie nicht mit, wie ihr Vater

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