Die Bibliothek der Schatten Roman
entlassen wurde, an den Rollstuhl gefesselt und so verbittert, dass er die meiste Zeit hinter der verschlossenen Tür seines Büros verbrachte und mit niemand reden wollte.
Sie begann, in der Gegend herumzustreifen, um den Wutausbrüchen ihres Vaters und den Stimmen zu entfliehen. Es gab Plätze, an denen sie von ihnen in Ruhe gelassen wurde. Das Naherholungsgebiet Amagerfælled war so ein Bereich, und sie nutzte jede Gelegenheit, mit dem Rad dort hinauszufahren und stundenlang in der absoluten Stille zu sitzen. Am unerträglichsten war es in der Schule, und so verlegte sie sich bald aufs Schwänzen, um stattdessen ihre Zeit im Grünen zu verbringen.
Natürlich war es nur eine Frage der Zeit, bis ihre Eltern davon erfuhren und Katherina einsah, dass ihr Zustand nicht nur sie beeinträchtigte, sondern sich auch negativ auf ihre Umgebung auswirkte. In diesem Moment beschloss sie, sich mit ihren Stimmen auszusöhnen. Nach außen tat sie so, als gäbe es sie nicht mehr, als wäre sie auf wundersame Weise geheilt, doch in Wirklichkeit begann sie von nun an, genauer hinzuhören. Sie wollte herausfinden, was die Stimmen bezweckten und wieso sie sich ausgerechnet sie als Opfer ausgesucht hatten. Bis dahin hatte sie sich geweigert, ihnen zuzuhören, weil sie sich nicht vorstellen konnte, dass wirklich sie gemeint war. Sie schienen eher aus einem Radio zu kommen, in dem mehrere Sender gleichzeitig liefen.
Als Legasthenikerin war ihr die Welt der Buchstaben fremd, so dass sie lange Zeit keinen Zusammenhang erkannte zwischen den unverständlichen Zeichen auf den Seiten, die die Menschen um sie herum lasen, und den Stimmen, die in ihrem Kopf ertönten. Bis es ihr eines Tages während einer Busfahrt wie Schuppen von den Augen fiel. Sie schaute aus dem
Fenster und hörte einer klaren Frauenstimme zu, die eine Geschichte von einem Mädchen las, das rote Zöpfe und Sommersprossen hatte und so stark war, dass es Pferde hochheben konnte. Die Geschichte war lustig, und bei einer ganz besonders komischen Szene konnte Katherina sich das Lachen nicht verkneifen. Zur Verwunderung der anderen Fahrgäste lachte sie laut auf. Nur ein Junge auf der hinteren Bank bemerkte es nicht, weil er ein Buch in den Händen hielt und genauso herzlich lachte wie sie. Von ihrem Platz im vorderen Teil des Busses konnte Katherina auf dem Buchumschlag deutlich das Mädchen mit den roten Zöpfen erkennen.
Die Türglocke vom Libri di Luca klingelte und riss Katherina aus ihren Gedanken. Ein Mann um die 30 mit Hornbrille, Samtjacke und einer speckigen Ledertasche über der Schulter blieb mit der Hand am Türgriff auf der Ladenschwelle stehen. Er war noch nie hier gewesen, das war ihm deutlich anzusehen, denn er reagierte wie die meisten Neulinge: Er sah sich erstaunt im Laden um und starrte dann zur Galerie hoch, als hätte er noch nie einen zweigeschossigen Buchladen gesehen. Katherina hatte mit Sicherheit auch nicht anders ausgesehen, als sie vor zehn Jahren zum ersten Mal das Libri di Luca betreten hatte, dennoch wunderte sie sich jedes Mal aufs Neue über das Staunen der Leute. Ja, das ist ein Antiquariat. Ja, das ist eine Galerie mit seltenen, kostbaren Werken in Vitrinenschränken. Ja, das ist ein fantastischer Ort, also kaufen Sie schon ein paar Bücher, und dann gehen Sie wieder. Wenn es nach ihr ginge, wäre das Libri di Luca für Kunden geschlossen.
Der Mann mit der Hornbrille entdeckte Katherina auf dem oberen Treppenabsatz, senkte umgehend den Blick und schloss eilig die Tür. Dann steuerte er auf den Tisch mit den neu eingetroffenen Büchern zu.
Katherina stand auf und ging langsam die Treppe hinunter.
Der Eindringling sah sich die Buchcover an.
»SwannsWeltLesPlaisirsEtLesJoursJamesJoyceAbsalom-AbsalomJohannesVJensenBuddenbrooksJacobStegelmann- DieGotischeRenaissanceExLibrisJorgeLuisBorgesFiktionenDerClubDumasFranzKafkaRobertMusil…«
Die Namen der Autoren und Buchtitel liefen in ihrem Kopf ab wie ein zu schnell abgespieltes Tonband. Sie biss die Zähne zusammen und ging zu dem grünen Ledersessel hinter dem Kassentresen. Als der Kunde den Kopf hob, um sie mit einem Nicken zu begrüßen, brach der Strom der Stimmen kurz ab. Katherina erwiderte den Gruß und setzte sich in den Sessel.
»FußspurenAmHimmelDieKunstImChorZuWeinenPer-HøjholtLatoursKatalogNikolaiFrobeniusSvendÅgeMadsen- AmericasKjær-stadDasSchlossDasHolzpferdCarlSchmitt-BennQHolmPoetikUndKritikFrankFønsEinErnstesGe- sprächJeffMatthewsLetzerSonntagImOktober«,
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