Die Bibliothek der Schatten Roman
wahrgenommen hatte, ob sie andere Menschen kannte, die das Gleiche erlebten. Sie beantwortete die Fragen, so gut sie konnte, und erlebte zum ersten Mal, dass jemand sie verstand und sie ernst nahm. In seiner entspannten Art, die sie in den nächsten Jahren immer mehr zu schätzen lernte, erklärte er ihr, dass sie nicht allein war. Mindestens die Hälfte der Zuhörer, die bei der Lesung gewesen waren, hätten ähnliche Fähigkeiten wie sie.
Katherina hatte ihre Fähigkeit nie als etwas Positives betrachtet.
Die Stimmen kamen ungefragt und zogen gnadenlos ihre Aufmerksamkeit auf sich, und sie konnte sie nicht regulieren. Doch genau das sei möglich, erklärte Luca ihr. Ihre Fähigkeit versetze sie in die Lage, sich in einen Kanal einzuschalten, der sich immer dann auftat, wenn jemand las, egal, ob leise für sich oder laut.
In weniger als einer Viertelstunde brachte er ihr eine Technik bei, mit der sie die Stimmen so weit dämpfen konnte, dass sie sich nicht mehr von ihnen gestört fühlte. Und obwohl die Technik eine gewisse Übung erforderte, war der Effekt schon beim ersten Versuch so deutlich zu spüren, dass Katherina vor Erleichterung in Tränen ausbrach. Luca tröstete sie und bot ihr an, zu ihm zu kommen, so oft sie wollte, um diese Technik zu verbessern. Natürlich könnte sie auch ohne sein Beisein üben, die Stimmen zu dämpfen, aber er bat sie eindringlich, sie solle auf keinen Fall ausprobieren, sie zu verstärken oder auf andere Art zu beeinflussen, bevor sie die Technik sicherer beherrschte. Später sollte Katherina herausfinden, wieso.
Der Kunde, der ins Libri di Luca gekommen war, war nicht wirklich bei der Sache. Katherina sah kurze Bildsequenzen von den Abschnitten der Bücher, in die er hineinlas, doch daneben blitzten immer wieder Eindrücke auf, die nichts mit dem Text zu tun hatten. Katherina konnte den Text, der gelesen wurde, nicht nur hören, sondern sah häufig auch die Bilder, die er beim Lesenden hervorrief. Und wenn der oder die Betreffende beim Lesen an andere Dinge dachte, tauchten auch diese wie eingeschobene Sequenzen in einem Film auf. Dieser Nebeneffekt konnte ebenfalls trainiert werden, und auch damit hatte Luca ihr im Laufe der Jahre geholfen, so dass sie inzwischen imstande war zu erkennen, woran ein unkonzentrierter Leser dachte. Wie jetzt der Mann mit der Hornbrille.
Vermutlich war er später noch verabredet, denn immer wieder tauchte das Bild einer Frau auf und auch der Ort, an dem
sie sich treffen wollten (Rathausplatz), wo sie essen wollten (in Mühlhausen), ganz zu schweigen von seinen erotischen Erwartungen an den Rest des Abends.
Dabei konnte Katherina längst nicht jeden Menschen lesen . Iversen war der Meinung, es hänge von der Fantasie der betreffenden Person ab, wie deutlich die Bilder sich ausprägten, die die Texte oder das Unterbewusstsein hervorriefen. Natürlich war es aber auch vom Lesestil abhängig. Schnellleser verursachten eine hastige Bildabfolge, die im Extremfall wie stilisierte Zeichentrickfilme vor ihrem inneren Auge vorbeiflimmerten. Andere nahmen sich so viel Zeit beim Lesen, dass die hervorgerufenen Bilder messerscharf und gesättigt mit Informationen waren, und Katherina konnte in ihnen auf Entdeckungsreise gehen oder Details heranzoomen wie auf einem Satellitenfoto.
»Die hätte ich gern«, sagte eine vorsichtige Stimme. Katherina schlug die Augen auf. Der Mann mit der Hornbrille stand vor der Kasse und hielt ihr zwei Bücher hin. Sie zuckte entschuldigend mit den Schultern.
»80 Kronen«, sagte sie, ohne die ausgewählten Taschenbücher anzusehen. Sie wusste bereits, dass es sich um The Big Sleep und Moon Palace für 30 bzw. 50 Kronen handelte. Sie stand auf und holte hinter dem Tresen eine Tüte, während der Kunde sein Geld heraussuchte. Er bezahlte und verließ den Laden mit einer Plastiktüte, auf der in goldenen Buchstaben »Libri di Luca« stand.
In einigen Fällen glich ihre Lettore-Fähigkeit die Legasthenie aus, und meistens gelang es ihr, ihr Handicap geheim zu halten. So hatte sie in der Schule eine Weile eine »spürbare Verbesserung« vorgaukeln können. Aber sobald die Lehrer oder Mitschüler die Texte nicht mehr mitlasen, blieb ihr die Welt der Buchstaben verschlossen. Beim Abitur hatte ihre Behinderung sie eingeholt.
Luca war überzeugt, dass es zwischen ihrer Dyslexie und
ihren Lettore-Fähigkeiten einen Zusammenhang gab. Bei ihren gemeinsamen Übungsstunden hatte er bald festgestellt, dass die Eigenschaften bei ihr
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