Die Bibliothek der Schatten Roman
tatsächlich lesen hören?«, erkundigte er sich mit einem Blick auf Katherina.
Sie errötete und nickte unmerklich.
»Aber«, platzte Iversen mit erhobenem Zeigefinger heraus, »es war nicht deine Stimme, die sie gehört hat. Auch nicht ihre eigene oder die des Autors. Das ist ja das Unglaublichste an der ganzen Sache. Offenbar hat jedes Werk seine ganz eigene Stimme.« Er musterte die rothaarige Frau mit einem gewissen Neid. »Als würde man mit der Seele des Buches kommunizieren.«
»Der feuchte Traum aller Bibliophilen«, kommentierte Jon trocken.
»Hmm, ja«, meinte Iversen und lächelte verlegen. »Ich habe mich wohl etwas von der Stimmung mitreißen lassen. Zwischendurch vergesse ich, dass man als Empfänger auch eine Menge Unannehmlichkeiten hat. Unannehmlichkeiten, die du und ich uns nicht vorstellen können.«
Jon musste an den alten Mann denken, den er nach Lucas
Beerdigung in der Kneipe getroffen hatte. Er hatte den Mann als Verrückten abgetan, einen lallenden Säufer, der wirres Zeug über Leser und Texte von sich gab. Doch nun bestätigte er eher Iversens Erklärung.
»Okay«, seufzte Jon und legte das Buch auf den Tisch. »Gesetzt den Fall, ich glaube euch, dass es Lettori gibt und dass ihr meine Gedanken und Gefühle mit Hilfe eines Buches manipulieren könnt.« Er breitete die Arme aus. »Was wollt ihr von mir?«
»Wer sagt, dass wir überhaupt etwas mit dir zu tun haben wollen?«, ertönte eine Stimme von der Tür.
Alle drei drehten sich zu dem Ankömmling um. Im Türrahmen stand ein magerer junger Mann Mitte 20 in einem eng anliegenden weißen T-Shirt und einer weiten khakigrünen Hose. Sein schmales Gesicht zierte ein roter Bart, ansonsten war er kahl und käsebleich. Seine schwarzen Augen brannten sich in Jons Blick.
»Hallo, Paw«, sagte Iversen. »Komm rein und begrüß unseren Gast.«
Der junge Mann stapfte resolut in den Raum und baute sich hinter Katherinas Stuhl auf, die Hände in die Seiten gestemmt.
»Unseren Gast?«, schnaubte er.
»Es ist alles in Ordnung«, beruhigte ihn Iversen. »Das ist Jon, Lucas Sohn.«
»Ich weiß. Ich hab ihn bei der Beerdigung gesehen«, antwortete Paw lakonisch. »Der Mann, der das Libri di Luca verkaufen will. Das hast du doch selbst gesagt, Svend.«
Iversen warf Jon einen peinlich berührten Blick zu, doch der tat, als wüsste er von nichts.
»Ich habe gesagt, dass das Risiko besteht. Wir wissen es noch nicht, Paw«, erklärte Iversen. »Darum sitzen wir hier.«
»Und was ist bei eurer Sitzung herausgekommen?«
»Wir waren gerade dabei, Jon einen Einblick zu geben, als du gekommen bist«, antwortete Iversen.
»Was habt ihr ihm alles gezeigt?«
»Alles.«
Paw sah von Iversen zu Jon. Seine Wangenmuskeln spannten sich, und seine Augen wurden schmal.
»Kann ich mit dir reden, Svend?«, bat Paw mit einem Nicken zur Tür. »Mit dir auch, Kat.«
Jon sah, dass Katherina kurz die Augen verdrehte, so dass nur noch das Weiße zu sehen war. Sie blickte Iversen fragend an, und der Alte nickte.
»Wie du willst, Paw. Geht schon mal nach oben, ich komme gleich nach.«
Der junge Mann marschierte hinaus, und Katherina folgte ihm zögerlich.
»Du musst ihm das nachsehen«, bat Iversen, als die beiden weg waren. »Wir haben Paw buchstäblich von der Straße aufgelesen, wo er von seinen Fähigkeiten als Lettore lebte. Luca hat ihn in der Fußgängerzone entdeckt, wo er den Passanten Gedichte vorgelesen hat. Ziemlich erfolgreich, muss man sagen. Viele Leute blieben stehen, um ihm zuzuhören, und die meisten von ihnen schmissen Geld in die Zigarrenschachtel, die vor seinen Füßen stand. Luca hat in ihm das gesehen, was er ist. Erfahrene Sender merken es, wenn andere Sender einen Text aufladen, und Paw machte nicht gerade ein Geheimnis daraus.« Iversen lehnte sich vor und beugte sich zu Jon. »Wie du dir vielleicht bereits denken kannst, haben wir viele Gründe, unsere Fähigkeiten geheim zu halten, Jon. Und wir können nicht riskieren, dass ein junger Kerl wie Paw uns kompromittiert, weil er nicht weiß, womit er es zu tun hat.« Er legte eine Pause ein. »Luca hat ihn unter seine Fittiche genommen, und so ist er im letzten halben Jahr ein Teil des Ladens geworden. Inzwischen halten wir große Stücke auf ihn und er auf uns, auch wenn er das nicht zeigt. Wie du gerade
sehen konntest, hegt er eine große Leidenschaft für den Laden.«
»Und er glaubt, dass ich ihm das nehmen will?«, fragte Jon.
»Ihm wurde schon so viel genommen«, erklärte Iversen.
Weitere Kostenlose Bücher