Die Bibliothek der Schatten Roman
Iversen, den Blick auf
die Rothaarige gerichtet, die regungslos in dem Ledersessel saß. Sie blickte auf und betrachtete Jon forschend. Dann strich sie sich nachdenklich mit dem Zeigefinger übers Kinn, bevor sie die Hand wieder in den Schoß legte und nickte.
»Wunderbar«, meinte Iversen und klatschte in die Hände. »Du solltest dich vielleicht besser setzen, Jon.«
»Und es reicht, wenn ich leise für mich lese?«
»Korrekt«, antwortete Iversen und zeigte auf einen Sessel. »Fang einfach an und mach dir keine Gedanken. Sie wird auf dich aufpassen.«
Jon setzte sich gegenüber von Katherina in den Sessel. Sie bedeutete ihm mit einem Nicken, dass er anfangen konnte, und Jon nickte reflexartig zurück, bevor er seinen Blick dem Buch zuwandte.
Ursprünglich war es einmal ein Taschenbuch gewesen, aber jemand hatte die Titelseite laminiert und den Rücken und die Rückseite mit Pappe und Leder verstärkt. Die Seitenränder waren vergilbt und abgegriffen, und das Buch klappte von selbst auf, als es auf seinen Oberschenkeln lag.
Ehe er es ganz aufschlug, warf er Katherina einen letzten Blick zu. Sie saß mit geradem Rücken und geschlossenen Augen da, die Hände im Schoß verschränkt.
Jon begann zu lesen.
Anfangs noch sehr langsam. Er las zurückhaltend und richtete seine ganze Aufmerksamkeit darauf, ob er etwas Ungewöhnliches bemerkte. Er las ein paar Seiten, ohne genau darauf zu achten, was da eigentlich stand, als ihn der Text plötzlich zu packen schien. Auf einmal las er viel freier und fließender, während die Geschichte ungehindert in sein Bewusstsein sickerte.
Der Protagonist des Buches, Montag, war offensichtlich Feuerwehrmann, aber einer, der Feuer entfachte, anstatt es zu löschen. Seine Aufgabe bestand darin, Bücher zu verbrennen, die als gesellschaftsgefährdend eingestuft wurden. Eines
Tages nach der Arbeit trifft er auf dem Heimweg eine junge Frau. Sie wurde so unglaublich lebendig beschrieben, dass Jon sie regelrecht vor sich sah, schlank, lächelnd, kokett und direkt. Sein Herz schlug schneller, und sein Mund wurde ganz trocken. Diese Frau war fantastisch. Er konnte es gar nicht erwarten, mehr über sie zu erfahren. Er wollte wissen, wo sie herkam und welche Rolle sie in der Geschichte spielte. Sie stand ihm so klar vor Augen, dass er sie fast neben sich zu spüren glaubte, ihre federnden Schritte, als sie Montag zu seinem Wohnblock begleitete, und ihr mitwippendes rotes Haar. Er begann sie schon jetzt zu vermissen, fürchtete die Leere, wenn sie sich auf der Treppe, die zu seiner Wohnung führte, von ihm verabschiedete.
Die Beschreibung war so echt, dass Jon am liebsten den Kopf zur Seite gewandt hätte, um die Frau genauer anzusehen, aber seine Augen gehorchten ihm nicht. Sie weigerten sich, ihre Wanderung über die Buchseiten zu unterbrechen, die unweigerlich zum Abschied von der Frau führte. Verzweifelt versuchte Jon, aufzuhören oder wenigstens zu verlangsamen, aber die Geschichte schritt unbarmherzig vor seinem Blick voran. Schweißperlen traten ihm auf die Stirn, und sein Puls ging schneller.
Montag und die Frau hatten jetzt den Wohnblock erreicht, in dem der Feuerwehrmann wohnte, und blieben, ganz in ihr Gespräch vertieft, auf der untersten Stufe stehen, völlig ohne Eile, wie um die Zeit zu ihrem Vergnügen oder Jons Qual in die Länge zu ziehen. Er fühlte eine unglaubliche Zuneigung zu dieser Frau, als würde er sie schon ewig kennen und lieben. Schließlich verabschiedete Montag sich von ihr, und Jon unterdrückte die zügellose Lust, ihr etwas hinterherzurufen, sie in den Text zurückzulocken, der ihm mit einem Mal banal und ärmlich vorkam. Seine Augen wurden feucht, aber er spürte, dass er endlich wieder entscheiden konnte, wo er hinsah, und er hörte auf zu lesen.
Als er den Blick hob, öffnete Katherina ebenfalls langsam die Augen. Sie vermied es, ihn direkt anzusehen. Trotzdem sah er ihre geröteten Augen. Jon blickte zu Iversen, der erwartungsvoll zurückstarrte.
»Na?«
Jon schaute auf das aufgeschlagene Buch. Es sah aus wie ein ganz normales Buch, ein Stapel Papier mit Worten und Buchstaben, ohne jeden Hinweis auf die Lebendigkeit und den Farbenreichtum, den er gerade eben erlebt hatte. Er klappte das Buch zu und drehte es prüfend zwischen den Händen hin und her.
»Wie habt ihr das gemacht?«, fragte er schließlich.
Iversen lachte.
»Ist das nicht fantastisch? Ich bin jedes Mal von Neuem beeindruckt.«
Jon nickte geistesabwesend.
»Und du hast mich
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