Die Bibliothek der Schatten Roman
zwitscherten die Stimmen. Sie lehnte sich zurück und schloss die Augen. Komplett ausschalten konnte sie die Stimmen nicht, aber sie hatte gelernt, die Lautstärke zu reduzieren, was sie nicht zuletzt Luca und Iversen zu verdanken hatte.
Zehn Jahre zuvor war sie am Libri di Luca vorbeigegangen, als eine Stimme sie erstarren ließ. Es war später Nachmittag und es regnete, weshalb sie nicht mit dem Rad nach Amager rausgefahren war, sondern auf der Suche nach stillen Orten durch Vesterbro streifte - egal wo, Hauptsache, sie fand einen Moment Ruhe. Nachdem sie den Zusammenhang zwischen den Stimmen und den Lesenden entdeckt hatte, versuchte sie, einen Bogen um die Orte zu machen, an denen es am schlimmsten war. An diesem Tag hatte sie dieser Umstand in die Straße geführt, in der das Libri di Luca lag.
Sie erkannte die Stimme, die sie zum Stehenbleiben veranlasst hatte, sofort wieder. Es war die Stimme aus dem Krankenhaus, ihr Begleiter durch die Bewusstlosigkeit. Sie sah sich
um, aber es war niemand zu sehen. Je näher sie dem Laden kam, umso deutlicher wurde die Stimme, und als sie nah genug war, um einen Blick durchs Fenster zu werfen, sah sie im vorderen Teil des Ladens etwa 50 Personen auf Klappstühlen sitzen. Hinter dem Verkaufstresen stand ein kleiner gedrungener Mann um die 50 mit grau melierten Haaren und südländischer Glut in den Augen. Er las aus einem Buch vor, das er in Händen hielt, und zwar so lebendig, dass sein ganzer Körper mitzuerzählen schien.
Katherina öffnete vorsichtig die Tür, und obgleich die Türglocke die Aufmerksamkeit aller Anwesenden auf sie lenkte, unterbrach der Vorleser seinen Vortrag nicht. Er warf nur einen freundlichen Blick in ihre Richtung. Sie setzte sich in die letzte Stuhlreihe und schloss die Augen. Der Mann war ein begnadeter Vorleser, aber es war nicht seine Stimme, wegen der sie gekommen war. Sie schaltete seine Stimme aus, indem sie sich die Ohren zuhielt, und konzentrierte sich auf die andere Stimme, die sie aus dem Krankenhaus kannte. Die Ellbogen auf die Knie gestützt, abgeschirmt von allen Geräuschen und optischen Eindrücken, saß sie da. Die Stimme und die Bilder, die das Gelesene hervorrief, erfüllten ihr Inneres, Szenen aus einer Stadt mit ihren ärmlichen Behausungen, Vögel über den Dächern, die staubigen und dreckigen Straßen. Obgleich es keine glückliche Geschichte war, fühlte sie sich geborgen. Und hätte sie nicht mit gebeugtem Kopf dagesessen, hätte man die Tränen auf ihren Wangen sehen können.
Plötzlich war es vorbei. Die Geschichte war zu Ende, und die Leute klatschten. Katherina nahm die Hände von den Ohren und bekam gerade noch mit, dass die Geschichte Der Fremde hieß. Während man über den Text diskutierte, blieb Katherina mit geschlossenen Augen und gesenktem Kopf sitzen. Anschließend standen die Zuhörer auf und schlenderten durch den Laden. Als die Ersten begannen, sich die Bücher in den Regalen anzusehen, wurde Katherina von Buchtiteln,
Autorennamen und Textabschnitten überflutet. Stimmen und Bilder bedrängten sie in einem immer stärker werdenden Strom, und sie musste alle Kräfte mobilisieren, um sich von ihrem Platz zu erheben und zur Tür zu wanken. Die Intensität der Sinneseindrücke nahm noch zu, als sie aufstand, sie hatte das Gefühl, sich gegen einen Sturm anstemmen zu müssen, und es fiel ihr zunehmend schwerer, den Ausgang im Blick zu behalten. Nach wenigen Schritten sackte sie zusammen.
Als sie wieder zu sich kam, war außer dem Vorleser niemand mehr im Laden. Nachdem er sich besorgt nach ihrem Befinden erkundigt hatte, stellte er sich als Luca vor. Er saß vor ihr auf einem Klappstuhl, während sie in einem weichen Ledersessel hinter dem Kassentresen lag. Mit den Zuhörern waren auch die Stimmen verschwunden, aber sie war so erschöpft, dass sie nicht in der Lage war aufzustehen.
Luca sagte, sie solle sich die Zeit nehmen, die sie brauchte, um wieder zu Kräften zu kommen. Dann sprach er beruhigend über ganz alltägliche Dinge: den Laden, die Leseabende, die sie veranstalteten, über Bücher, sogar über das Wetter, bis er sie unvermittelt fragte, wie lange sie die Stimmen schon hörte.
Die Frage hatte sie derart überrumpelt, dass sie ihr Versprechen vergaß, mit niemand darüber zu reden. Sie erzählte ihm alles. Luca wusste verblüffend gut über ihren Zustand Bescheid und stellte Zwischenfragen: wie kräftig die Stimmen wären, ob sie sie auf Abstand halten könnte, wann sie sie zum ersten Mal
Weitere Kostenlose Bücher