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Die Bibliothek der Schatten Roman

Die Bibliothek der Schatten Roman

Titel: Die Bibliothek der Schatten Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mikkel Birkegaard
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extrem stark ausgeprägt waren, und zwar wegen und nicht trotz der Dyslexie, wie er meinte. Auch deshalb versuchte er ihr beizubringen, ihre Fähigkeiten als eine Gabe und nicht als Strafe zu betrachten, wie sie es bis dahin getan hatte. Doch obgleich er selbst ein Lettore war, war er kein Empfänger und damit ein Außenstehender, was Katherinas persönliches Erleben anging.
    Wie viel schwieriger musste es für den Sohn ihres Mentors sein, der in diesem Moment ein Stockwerk tiefer in die Geheimnisse der Lettori eingeweiht wurde. Die Skepsis, die sie selbst empfunden hatte, als Luca ihr die erklärte, hatte sich rasch aufgelöst. Schließlich hatte sie das alles bereits am eigenen Leibe erfahren, so dass sie sich auf diese bizarre Erklärung stützen konnte. Wie sich das Ganze in den Ohren eines komplett Außenstehenden anhören musste, überstieg jedoch ihre Vorstellungskraft. Wie würde er reagieren?
    Im gleichen Augenblick hörte Katherina das Knarren der Treppe. Gleich darauf sah sie Iversen. Er hatte Schweißperlen auf der Stirn, und sein Gesicht war gerötet, wie immer, wenn er eine lebhafte oder erhitzte Diskussion geführt hatte.
    »Er will Beweise«, sagte er atemlos. »Kannst du es ihm mal vorführen?«

SECHS
    W elches sollte er nehmen?
    Jon ging an den Regalen entlang, auf der Suche nach einem passenden Buch für die Vorführung. Iversen hatte gesagt, er könne wählen, was er wolle, und wirkte dabei so selbstsicher wie ein Zauberkünstler, der einen Zuschauer auffordert, eine beliebige Karte aus dem Stapel zu ziehen. So wie Jon es verstanden hatte, sollte er ein Stück in dem Buch lesen, während Katherina versuchen würde, sein Verständnis des Textes in einem solchen Ausmaß zu beeinflussen, dass jeder Zweifel ausgeschlossen war.
    Iversen hatte ihm erklärt, dass Katherina Empfänger war, daher also hören und bis zu einem gewissen Grad auch sehen konnte, was andere lasen. Und sie sollte, was fast noch unglaublicher erschien, imstande sein, das Texterleben des Lesenden nach eigenem Ermessen zu verstärken. In dieser Hinsicht ähnelten ihre Fähigkeiten denen, die Jon laut Iversens Vermutung selbst hatte. Aber während man den Text laut vortragen musste, um ihn »aufzuladen«, konnte Katherina den Lesenden unmittelbar beeinflussen, selbst wenn er stumm las.
    Iversen hatte sehr überzeugend geklungen, aber als er erwähnte, Katherina könne auch Gedanken lesen, hatte Jon einen Beweis verlangt. Die Selbstverständlichkeit, mit der der alte Mann seinen Wunsch akzeptierte, ließ Unruhe in ihm aufkeimen. Er hatte sich nicht einmal gegen Jons Forderung verwehrt, ihm auf der Stelle den Beweis zu liefern. Er fand es beängstigend, dass andere durch seine Gedanken streifen konnten,
wenn er las - sollte es denn mit diesen Fähigkeiten tatsächlich etwas auf sich haben.
    Die Art und Weise, in der Katherina die Bibliothek betrat, machte ihn nicht ruhiger. Sie hatte so gar nichts von einer Zauberin oder einer Mystikerin - es machte eher den Eindruck, als wäre ihr das Ganze unangenehm. Sie würdigte ihn kaum eines Blickes, setzte sich in einen der Ledersessel und legte die Hände in den Schoß. Jon fühlte sich beobachtet, nicht nur von den beiden Anwesenden, sondern auch von den Bücherwänden, die ihn mit angehaltenem Atem zu mustern schienen.
    »Kann ich auch ein Buch aus dem Laden nehmen?«, fragte Jon und deutete nach oben.
    »Selbstverständlich«, antwortete Iversen. »Lass dir Zeit.«
    Jon verließ den Raum und begab sich ins Antiquariat. Iversen hatte die Ladentür abgeschlossen und das Licht gelöscht, so dass das Geschäft nur vom Schein der Straßenlaternen erhellt wurde. Nachdem Jon sich an die Dunkelheit gewöhnt hatte, ging er willkürlich zwischen den Regalen herum. Ab und zu blieb er stehen, zog ein Buch heraus und nahm es genauer unter die Lupe, um es gleich darauf wieder zu verwerfen und zurückzustellen. Am Ende sah er ein, dass es egal war, welches Buch er wählte, weil ihm für ein solches Experiment einfach nichts Passendes einfiel. Er schloss die Augen und strich mit den Fingerspitzen über die Buchrücken, bis er irgendwann innehielt und einen Band aus dem Regal zog. Mit seiner Trophäe ging er zurück in den Keller.
    » Fahrenheit 451 «, sagte Iversen und nickte anerkennend. »Bradbury. Eine hervorragende Wahl, Jon.«
    »Science Fiction, oder?«
    »Ja. Aber das Genre ist unerheblich. Bist du bereit?«
    Jon zog die Schultern hoch.
    »Ja, klar.«
    »Was ist mit dir, Katherina?«, fragte

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