Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Bibliothek der Schatten Roman

Die Bibliothek der Schatten Roman

Titel: Die Bibliothek der Schatten Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mikkel Birkegaard
Vom Netzwerk:
»Und so oft, dass er kaum noch etwas anderes erwartet.«
    Jon nickte nachdenklich.
    »Ich sollte jetzt wohl mal …«, begann Iversen und zeigte zur Tür. Er erhob sich und verließ die Bibliothek. Jon hörte, wie sich seine Schritte über den Flur und die knarrende Treppe entfernten, dann war es still.
    Jon stand auf und ging an den Regalen entlang. Die wenigsten Bücher waren ihm bekannt, und darüber hinaus waren die ganz alten Werke in Latein oder Griechisch verfasst, Sprachen, die er nie gelernt hatte. Es gab auch einige wenige italienische Bücher, in die Jon einen Blick warf. Obgleich er sein Italienisch lange nicht mehr angewendet hatte, verstand er doch das meiste.
    Viele Buchrücken waren kunstvoll gestaltet, mit gotischer Schrift oder kleinen Illustrationen, so dass Jon sich mitunter richtig anstrengen musste, um zu entziffern, was dort stand. Manche Bücher hatten gar keinen Buchrücken mehr, sondern bestanden aus einem Stapel vergilbter Bögen, die von einem Lederband oder einer Bastschnur zusammengehalten wurden. Andere hatten Metallbeschläge auf dem Rücken und an den Ecken des Einbands, und ein paar wenige waren in dünne Furnierplatten eingebunden, in die Titel und Ornamente eingebrannt waren.
    Die Buchstaben begannen vor Jons Augen zu tanzen. Er setzte sich in einen der weichen Ledersessel und ließ den Blick schweifen. Er konnte sich gut vorstellen, dass es Generationen gebraucht hatte, diese Sammlung zusammenzutragen, die ihren Ursprung in Italien hatte und der Campelli-Familie durch Europa bis nach Dänemark gefolgt war. Vor seinem inneren Auge sah Jon plötzlich eine Familie, die einen Karren mit Büchern
und einem großen Geheimnis hinter sich herzog. Jon legte den Kopf in den Nacken und bedeckte das Gesicht mit den Händen.
    Er stand in letzter Zeit ziemlich unter Druck. Der Fall Remer nahm jede wache Minute in Anspruch, und die Unterlagen, die er zwischen seiner Wohnung und der Kanzlei hin und her schleppte, wurden immer umfangreicher. Seine Wohnung war eine Verlängerung seines Büros geworden, und ihm blieb kaum noch Zeit, seine Dachterrasse zu nutzen oder sich in seiner nagelneuen Küche etwas Vernünftiges zu kochen. Seine Mahlzeiten holte er sich meistens aus einem der Fastfood-Restaurants in der Nähe, wenn er nicht gleich auf Fertiggerichte zurückgriff, die er sich in der Mikrowelle aufwärmte.
    Jon presste Zeige- und Mittelfinger gegen die Schläfen und massierte sich in kreisförmigen Bewegungen den Schädel. Er atmete ruhig und tief ein und aus und merkte, wie sein Puls langsamer und sein Körper ganz schwer wurde.
    Lucas Tod hätte zu keinem ungünstigeren Zeitpunkt kommen können.
    Schließlich nahm er die Hände von den Schläfen und legte die Arme auf die Sessellehnen. Ohne die Augen zu öffnen, atmete er weiter tief durch. Sein Brustkorb hob und senkte sich im Takt mit seinen Atemzügen, und er hörte zu, wie die Luft seine Lunge verließ und wieder eingesogen wurde.
    Aber da war noch etwas anderes.
    Bei genauem Hinhören nahm er ein schwaches Raunen wahr. Ein leises Wispern, kaum hörbar, das den Raum erfüllte und ganz allmählich an Intensität zunahm. Jon konzentrierte sich, konnte aber nicht verstehen, was gesagt wurde oder ob es Männer- oder Frauenstimmen waren. Auf alle Fälle waren es mehrere. Es klang wie das leise Gemurmel einer Versammlung. Die Stimmen waren so schwach und zart, dass er die Luft anhalten musste, um herauszufinden, wo sie herkamen. Aber kaum glaubte er ihren Ursprung ausgemacht zu haben, schienen
sie wieder von einer anderen Richtung zu kommen. Sein Herz schlug schneller, er atmete tief ein und hielt erneut die Luft an.
    In einem Versuch, die Konzentration noch weiter zu steigern, ballte er die Hände zu Fäusten und kniff die Augen fest zu.
    Plötzlich explodierten Bilder vor seinem inneren Auge, abstrakte Formen und Farben mischten sich mit Landschaften und Szenerien von kämpfenden Rittern, Seeräubern und Indianern. Unterwasserbilder von Seeungeheuern, Tauchern und U-Booten wurden von Mondlandschaften und Wüsten abgelöst, denen eisbedeckte Ebenen und schwankende Schiffsdecks folgten - das alles in rasender Geschwindigkeit wie bei einem Diavortrag im Schnelldurchlauf. Regennasses Kopfsteinpflaster und eine Arena im gleißenden Sonnenlicht mit schwitzenden Gladiatoren, Gebäude, aus denen sich hohe Flammen einem leuchtend gelben Vollmond entgegenstreckten. Der Vollmond wurde zum Auge eines kämpfenden Drachen und dessen schuppiges Augenlid

Weitere Kostenlose Bücher