Die Bibliothek der Schatten Roman
die Platzierung im Himmel rechtfertigte. Das Papier hatte eine kräftige Struktur, über die er mit sichtlicher Freude die Fingerkuppen gleiten ließ. Dann hob er das Buch an
die Nase und sog den Duft ein. Es roch nach Kräutern, und er glaubte, Lorbeer identifizieren zu können.
Ebenso zögerlich wie gründlich blätterte er bis zu einem Kupferstich, der den Tod mit Kutte und Sense darstellte. Die Illustration war mit äußerster Sorgfalt angefertigt worden, und obgleich er sie eingehend studierte, konnte er nicht den kleinsten Fehler im Druck ausmachen. Die beschwerliche Druckmethode des Kupferstichs war im 19. Jahrhundert weit verbreitet und zeichnete sich durch viel größere Detailtreue und deutlich mehr Feinheit aus als der beste Holzschnitt. Dafür musste das Papier aber auch zweimal bedruckt werden, da die Druckerschwärze in den Vertiefungen der Kupferplatte saß und nicht wie beim normalen Text auf erhabenen Buchstaben aus gegossenem Blei.
Luca blätterte begeistert weiter und bewunderte die übrigen Kupferstiche des Buches. Auf der letzten Seite hob er erneut die Augenbrauen. Normalerweise befand sich hier der etwa visitenkartengroße Preiszettel des Antiquariats, hier aber fehlte er. Dass Iversen in den Kauf eines derart kostbaren Werkes investiert hatte, ohne Luca zu konsultieren, war schon verwunderlich, aber dass er dann auch noch das Buch zum Verkauf anbot, ohne es mit einem Preis auszuzeichnen, stand vollkommen im Widerspruch zu seinem sonst so korrekten Verhalten.
Noch einmal sah Luca sich suchend im Antiquariat um, als erwartete er ein Empfangskomitee, das ihm dieses Mysterium erklärte. Doch kaum jemand wusste von seiner Reise und seiner heutigen Rückkehr, und die wenigen, die davon Kenntnis hatten, verstanden nur zu gut, dass es keinen Grund zum Feiern gab.
Er zuckte mit den Schultern, schlug das Buch in der Mitte auf und begann laut zu lesen. Der Zweifel verschwand aus seinem Gesicht und wurde von der Freude ersetzt, etwas in seiner Muttersprache lesen zu können. Bald hob er die Stimme
und ließ die Worte frei durch die Gänge zwischen den Buchregalen strömen. Es war schon eine Weile her, dass er Italienisch gelesen hatte, daher brauchte es ein paar Seiten, bis er in den Klang der Sprache und den Rhythmus des Geschriebenen fand. Es bestand aber kein Zweifel, dass es ihm Genuss bereitete: Seine Augen strahlten vor Glück, und sein begeisterter Gesichtsausdruck stand im Widerspruch zur Melancholie des Textes.
Die Freude hielt jedoch nur kurz an. Mit einem Mal verwandelte sich Lucas Begeisterung in Überraschung, er taumelte zwei Schritte zurück und stieß mit dem Rücken gegen die Vitrine. Die Augen noch immer auf das Buch geheftet, las er weiter, während es Glassplitter über seinen Rücken regnete. Die Verwunderung in den geweiteten Pupillen wandelte sich in Angst, und die Knöchel seiner Finger traten weiß hervor, als er das Buch immer fester umklammerte. Er stolperte mit fast mechanischen Bewegungen gegen das Geländer, und bei der Erschütterung rutschte das Cognacglas über die Kante und landete auf dem Boden des Erdgeschosses. Der Teppich dämpfte das Klirren des zerspringenden Glases.
Lucas Stimme klang unvermindert kräftig, aber die Worte kamen jetzt stoßweise und unrhythmisch. Schweiß trat auf die Stirn des alten Mannes, und sein Gesicht war vor Anstrengung rot angelaufen. Ein paar Tropfen rannen ihm über die Stirn und tropften von der Nase auf das Buch. Das dicke Papier saugte die Schweißtropfen auf wie ein ausgetrocknetes Flussbett den Regen.
Lucas Augen waren jetzt weit aufgerissen und klebten auf dem Text, er blinzelte nicht einmal, als ihm der Schweiß in die Augen rann. Seine Pupillen folgten unerbittlich den Zeilen des Buches, und es gelang ihm trotz mehrerer Versuche nicht, den Kopf abzuwenden und den Blick von den Buchstaben loszureißen. Er begann am ganzen Körper heftig zu zittern, und ein schmerzerfüllter Ausdruck verzerrte sein Gesicht zu einer
abstoßenden Grimasse, die den sonst so freundlichen Mann wie einen Verrückten aussehen ließ, oder wie einen Epileptiker während eines Anfalls.
Trotz der physischen Anstrengung hallte Lucas Stimme noch immer durch den Laden, wenn auch stammelnd und unterbrochen von kurzen Pausen, denen dann wieder der nächste Wortschwall folgte. Der gesprochene Text hatte keinen Rhythmus mehr, die Sätze klangen abgehackt und aneinandergereiht, ohne Rücksicht auf grammatikalische Regeln, und auch die Betonung der einzelnen
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