Die Bibliothek der Schatten Roman
plötzlich die Meinung geändert hatte, konnte alles schiefgehen.
Nach Genehmigung der Lesung arrangierten die Lettori eine Veranstaltung, um in der Nähe der Zielperson lesen zu können. Das war in der Regel der leichteste Part, da es sich bei den Auserwählten häufig um Personen des öffentlichen Lebens handelte wie Politiker, Verwaltungsbeamte oder Journalisten, die ohne besondere Sicherheitsvorkehrungen auftraten.
Für die Lesung wurde ein passender Text gewählt, der die strittigen Bereiche tangierte. Beim Vortrag lud man die wichtigen Passagen so auf, dass das Opfer das Interesse verlor oder seine Meinung vollständig änderte. Natürlich brauchte es dafür gute, starke Lettori, aber das Resultat war bislang nie ausgeblieben
und hatte der Gesellschaft bis heute ihre Anonymität bewahrt.
Katherina konnte nicht sagen, wie viele solcher Lesungen bereits genehmigt worden waren, doch in den zehn Jahren, in denen sie Luca kannte, hatte sie nur eine einzige erlebt. Damals war sie selbst involviert gewesen, wenn auch »nur zur Unterstützung«, wie Luca ihr versichert hatte.
Zielperson war ein Kommunalpolitiker aus Kopenhagen gewesen, der aus Kostengründen die öffentlichen Zuschüsse zu den Leseklassen der Schulen streichen wollte, womit die Existenz der Leseklassen sämtlicher Schulen der Hauptstadt bedroht war.
Eine der vorrangigen Aufgaben der Gesellschaft bestand darin, das Leseerlebnis zu steigern und die Lesefähigkeiten besonders von Problemkindern zu verbessern. Viele Mitglieder der Lettore-Gesellschaft waren als freie Pädagogen tätig und hielten nach Absprache in den verschiedenen Schulen Übungsstunden für Kinder mit Leseschwächen ab. Sie weckten in den Kindern damit nicht nur die Lust am Lesen, sondern stießen dabei manchmal auch auf kleine Lettori. Die Leseklassen waren ein Mittel, die wenigen Menschen mit dieser Fähigkeit zu identifizieren und sie in ihrem weiteren Leben so diskret wie möglich zu begleiten und zu führen.
Die Infragestellung der Leseklassen hätte die Gesellschaft natürlich nicht direkt betroffen, aber die Angst vor dem möglichen Verlust des Zugangs zu potenziellen Lettori war für den Rat Grund genug gewesen, eine Lesung für den Politiker zu genehmigen.
Die Lesung fand an einem extrem heißen Sommertag im Rathaus statt. Zuvor hatte die Gesellschaft eine Unterschriftensammlung gegen die Schließung der Klassen organisiert. Die Eltern der Kinder aus den Leseklassen nahmen bereitwillig an der Übergabe der Unterschriften teil, die durch die Verlesung einer Deklaration ergänzt werden sollte.
Neben Katherina und Luca waren drei weitere Mitglieder der Gesellschaft sowie besagte Eltern an der Aktion beteiligt, die allerdings von dem eigentlichen Zweck des Besuchs im Rathaus nichts wussten. Luca hatte sich in einen Anzug gezwängt, was dem kleinen Italiener in Anbetracht der Hitze allerdings überhaupt nicht guttat. Der Schweiß rann ihm über die Stirn, und sein Gesicht leuchtete feuerrot. Katherina trug ein weites schwarzes Kleid und litt deutlich weniger als der Rest der Delegation. Trotz der Hitze mussten sie 45 Minuten im Vorzimmer bei einer jungen blonden Sekretärin warten, der die Temperaturen in ihrem weißen Kleidchen allerdings nichts auszumachen schienen.
Schließlich wurden sie dann aber doch ins Büro des Politikers gelassen und von einem schmächtigen Mann mittleren Alters empfangen. Seine stahlgrauen Haare hatten die gleiche Farbe wie der eng anliegende Anzug. Seine buschigen Augenbrauen streckten sich ihnen entgegen wie kleine Hörner und wirkten ebenso abweisend wie sein harter Blick. Sie gaben ihm nacheinander die Hand, als sie den Raum betraten, und Katherina musste den Blick niederschlagen, als sie an der Reihe war. Der feste Händedruck, mit dem er sie begrüßte, schmerzte noch Minuten später.
Der Sprecher der Lesevereinigung erklärte kurz, warum sie gekommen waren, und überreichte dem Grauhaarigen, der hinter seinem großen, leeren Schreibtisch Platz genommen hatte, die Unterschriftenliste und die Deklaration. Der Politiker hörte ihm mit halb geschlossenen Augenlidern zu. Seine Ellenbogen ruhten auf den Armlehnen des Bürostuhls, während seine spinnenartigen Finger unablässig gymnastische Übungen vollzogen.
Die Deklaration sollte nicht einfach nur übergeben, sondern auch laut verlesen werden. Das war Lucas Aufgabe. Er trat schnaufend vor und begann seine Ausführungen. Wie erwartet griff der Politiker zu seiner Kopie, wobei unklar
war, ob
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