Die Bibliothek der Schatten Roman
Gleichgewicht war irgendwie verschoben. Jetzt war er der Benjamin, während sie - nicht ohne einen gewissen Stolz - zu denen gehörte, auf die man sich verlassen konnte. Jemand, der allein zurechtkam.
Und dieses Gleichgewicht würde sich nun mit Jons Rückkehr erneut verschieben - die Frage war nur, in welche Richtung.
Nachdem sie ihr Fahrrad abgestellt hatte, vergewisserte sie sich noch einmal, dass niemand sie beobachtete. Dann schloss sie die Tür auf und verschwand im Haus. Ohne das Licht anzuschalten, lief sie, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinauf. Im vierten Stock blieb sie vor einer grauen Tür stehen. Das Messingschild war trotz der Dunkelheit gut zu erkennen, und obgleich sie es nicht lesen konnte, wusste sie, was dort stand: Zentrum für Dyslexie (Sprechstunden nach Vereinbarung)
Katherina klingelte einmal lang und einmal kurz und wartete. Gleich darauf hörte sie Schritte hinter der Tür. Ein Schlüssel wurde im Schloss herumgedreht. Die Tür öffnete sich einen Spaltbreit, und ein Lichtstrahl fiel auf den Flur und auf Katherina. Die plötzliche Helligkeit blendete sie, sie kniff die Augen zusammen und hielt sich die Hand vor das Gesicht.
»Komm rein«, ertönte eine Frauenstimme, und die Tür wurde ganz geöffnet.
Katherina trat in ein längliches, beige gestrichenes Vorzimmer mit einer Reihe von Messinghaken an den Wänden. Fast an allen hingen bereits Jacken, doch sie fand noch einen freien Haken für ihren Mantel.
Die Frau, die ihr geöffnet hatte, schloss die Tür und wandte sich zu ihr. Sie war etwa Mitte 40 und ziemlich beleibt, was sie mit ihrem schwarzen Kleid jedoch gut kaschierte. Ihr Gesicht wurde von einer kräftigen Hornbrille dominiert und von hellbraunen Haaren umrahmt, die im scharfen Licht der Halogendeckenspots etwas künstlich wirkten.
»Und?«
Katherina fing ihren Blick auf und nickte.
»Er wird gut - besser als sein Vater.«
ACHT
W enige Sekunden bevor der Radioweckers anging, wurde Jon wach.
Im ersten Augenblick wusste er nicht recht, wo er war. Die kahlen weißen Wände und die Decke des Schlafzimmers verschwammen ineinander und erinnerten ihn an eine Kuppel aus Schnee, als läge er rücklings in einem Iglu. Er fror, denn die Bettdecke war ihm im Laufe der Nacht auf den Boden gerutscht, und das zerknitterte Laken zeugte von einem unruhigen Schlaf. Er erinnerte sich, dass er Probleme mit dem Einschlafen gehabt und noch lange darüber nachgegrübelt hatte, was im Antiquariat passiert war. Iversens Erklärung, die Demonstration und die Eindrücke, die ihn übermannt hatten, als er alleine in der Bibliothek war, kamen ihm inzwischen völlig unwirklich vor. Irgendwann war er aufgestanden und hatte das Buch geholt, Fahrenheit 451 , das noch in seiner Jackentasche steckte. Der greifbare Beweis, dass das alles tatsächlich stattgefunden hatte. Dabei handelte es sich um ein ganz gewöhnliches Buch, nicht mehr und nicht weniger.
Es war schon lange her, dass er im Bett gelesen hatte. Als Kind hatte er es geliebt, und nur eines hatte er noch lieber gehabt, nämlich wenn Luca ihm eine Gutenachtgeschichte vorlas, am liebsten Pinocchio und am besten auf Italienisch. Bei seiner Ausgabe von Fahrenheit 451 handelte es sich um eine Übersetzung ins Dänische. Er las das erste Kapitel noch einmal, und ihm fiel auf, dass es viel holperiger klang, als es ihm während der Demonstration vorgekommen war.
Die Haarfarbe der Frau wurde an keiner Stelle auch nur erwähnt, dabei war er überzeugt gewesen, dass sie rote Haare hatte.
Jon blickte zum Nachtschränkchen, wo er das Buch abgelegt hatte. Es lag immer noch da, leicht geöffnet wegen der abgegriffenen Seitenränder.
Die Digitalziffern auf dem Radiowecker sprangen auf 07:00, und die Stimme des müden Moderators plätscherte mit den neuesten Nachrichten aus den Lautsprechern. Unruhen in Israel, absurde politische Beiträge zur Einwandererdebatte, ein Überfall auf eine Postfiliale. Als die Stimme monoton von einer Untersuchung zur Lesefähigkeit von Kindern berichtete, stützte Jon sich auf dem Ellenbogen auf und hörte zu. Nach dieser Untersuchung waren dänische Kinder schlechtere Leser als Kinder aus den Nachbarländern, eine Entwicklung, die der Bildungsminister als besorgniserregend und inakzeptabel bezeichnete. Jon ließ sich wieder zurücksinken und schloss seufzend die Augen. Nächste Woche würde garantiert eine andere Untersuchung veröffentlicht werden, die das Gegenteil bewies.
Der Moderator wurde von einem
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