Die Bibliothek der Schatten Roman
nickte Jon. »Bisher wurde mir noch nie vorgeworfen, eine Marionette zu sein. Doch ich glaube, Sie irren sich, was Kortmann betrifft. Auf mich wirkt er wie jemand, der der Sache wirklich auf den Grund gehen will und der die Bibliophile Gesellschaft gerne wieder vereint sehen würde.«
»Ich hoffe, dass Sie Recht haben«, entgegnete Clara.
»Tatsache ist, dass er damals für die Teilung plädiert hat«, fuhr Jon fort. »Aber es kommt mir so vor, als würde er diese Entscheidung heute bereuen oder zumindest kritisch hinterfragen.« Er zog die Schultern hoch. »Vielleicht ist er mit den Jahren milder und weiser geworden.«
»Was uns zurück zum Ausgangspunkt bringt«, sagte Clara. »Was momentan passiert, schadet uns allen. Wie können wir Ihnen also helfen, Jon? Was wollen Sie tun?«
Es wurde still im Raum, und Jon fühlte sich, als wäre ein greller Scheinwerfer auf ihn gerichtet worden, der jede seiner Bewegungen bloßstellte. Seine Handflächen wurden warm, und er unterdrückte das starke Bedürfnis, auf dem Stuhl hin und her zu rutschen.
»Beginnen wir mit einer genaueren Untersuchung der einzelnen Ereignisse«, mischte Katherina sich ein. »Es ist wichtig, vollständig aufzuklären, ob die Vorfälle geplant waren oder ob es sich um Zufälle handelt. Sollte es einen Zusammenhang geben, müssen wir uns die Frage stellen, wer einen Vorteil davon hätte und was derjenige gegebenenfalls damit bezweckt.«
Jon nickte und warf ihr ein dankbares Lächeln zu.
»Ich bin Ihrer Meinung«, sagte er und machte eine kurze Pause. »Ja, ich bin überzeugt davon, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen den Vorfällen jetzt und denen vor 20 Jahren. Und allein schon die Länge des Zeitraums von damals bis heute grenzt die potenziellen Täter ein.«
Nach dem Treffen fuhr Jon Katherina zu ihrer Wohnung im Nordwesten der Stadt. Unterwegs sprachen sie kaum. Jon ging das Treffen in Gedanken noch einmal durch, kam aber zu keinem richtigen Schluss. Eigentlich hätte er beleidigt sein müssen, als Kortmanns Marionette bezeichnet zu werden, aber er hatte das sichere Gefühl, dass sie hinter ihm standen, obwohl er Kortmann in Schutz genommen hatte. Stärker als nach seinem Treffen mit den Sendern spürte er, dass sie etwas von ihm erwarteten und ihre Hoffnung darauf setzten, dass er herausfand, was passierte. Gleichzeitig zweifelte er aber auch nicht daran, dass sie ihre Geheimnisse hatten, die er erst noch zu Tage fördern musste.
»Hier ist es«, sagte Katherina und zeigte auf eine blassgelbe Hausfassade mit grünen Aluminiumbalkonen. Die ganze Straße wirkte etwas heruntergekommen.
Sie öffnete die Beifahrertür, blieb aber noch sitzen.
»Ich will morgen zu Iversen«, erklärte sie. »Kommst du mit?«
Jon nickte, woraufhin sich ihre Lippen zu einem warmen Lächeln verzogen.
»Bis dann«, verabschiedete sie sich, legte ihre Hand auf seine und drückte sie. »Das hast du heute gut gemacht.«
Sie stieg aus und warf die Tür hinter sich zu.
FÜNFZEHN
W äre die Zeit nicht auf Katherinas Seite gewesen, hätten sie Iversen nicht mehr retten können.
Dabei hatte Katherina wirklich nicht häufig das Gefühl, die Zeit wäre ihr wohlgesonnen. Sie hatte oft darüber nachgedacht, wie ihr Leben wohl aussähe, wenn Zufälle sie so lange aufgehalten hätten, dass gewisse Ereignisse niemals stattgefunden hätten oder anders ausgegangen wären. Hätte sie sich an jenem Morgen, an dem sie mit ihren Eltern wegfahren sollte, etwas schneller angezogen oder darauf bestanden, sich doch noch einmal umzuziehen, wäre der Unfall nie geschehen. Dann wäre der Lastwagen vor oder hinter diesem Hügel an ihnen vorbeigefahren, Vater hätte den Traktor ohne Probleme überholt, und sie alle wären unverletzt und nichts von ihrem alternativen Schicksal ahnend weitergefahren.
Fielen Umstände und Timing einmal zu ihren Gunsten aus, erkannte sie das nicht immer. Doch über diesen einen besonderen Tag hatte sie viel nachgedacht. Was wäre geschehen, wäre sie an jenem Tag nicht exakt zu dem Zeitpunkt am Libri di Luca vorbeigekommen, an dem Luca laut aus dem Fremden vorgelesen hatte. Katherina war überzeugt, dass sie dann weder Luca noch Iversen oder einen anderen Empfänger getroffen hätte. Vielleicht wäre sie wie so viele andere Vagabunden verrückt geworden oder hätte sich das Leben genommen.
Deshalb war sie auch so dankbar, dass Jon sie zum vereinbarten Zeitpunkt abholte und nicht zehn Minuten später.
Sie trafen sich im Antiquariat, in dem der
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