Die Bibliothek der Schatten Roman
er bei Ihnen?«, wollte Jon wissen.
»In erster Linie war er Diplomat«, antwortete Clara. »Er hat bis zuletzt versucht, die Bibliophile Gesellschaft wieder zu vereinen. Ohne seine Bemühungen wäre das Verhältnis zwischen Sendern und Empfängern sehr viel schlechter, als es heute ist.«
»Dass das Verhältnis noch schlechter sein könnte als ohnehin schon, kann man sich nur schwer vorstellen.«
»Es hat sich erst in letzter Zeit wieder verschlechtert«, erklärte Clara. »Vor den ersten Vorfällen standen wir kurz davor, uns wieder anzunähern. Es ist nicht leicht, 20 Jahre Feindschaft und Missverständnisse über Bord zu werfen - dazu braucht es eine gehörige Portion Diplomatie und die Bereitschaft zu Zugeständnissen. Luca hatte mit den Leseabenden im Libri di Luca, das von beiden Seiten als eine Freistatt mit dauerhaftem Waffenstillstand betrachtet wurde, allerdings seit Jahren den Boden dafür bereitet. Trotzdem steckte die Zusammenarbeit der Gesellschaft noch in den Kinderschuhen.«
»Was bedeutet das?«, fragte Jon. »Warum ist es so wichtig, die beiden Parteien wieder zu vereinen, wenn die Fähigkeiten so unterschiedlich sind?«
»Auch wenn Sie selbst noch nicht aktiviert sind, werden Sie eine Vorstellung davon bekommen haben, wie effektiv das Instrumentarium der Fähigkeiten ist, das Sendern und Empfängern zur Verfügung steht. Die wahre Kraft entfaltet sich aber erst im Zusammenwirken beider Strömungen. Wird ein Sender von einem Empfänger unterstützt, ist das Resultat wesentlich gebündelter und die Beeinflussung der Zuhörer so stark, dass nur die wenigsten widerstehen können.«
»Es geht also um Macht?«
Von allen Seiten wurden Proteste laut, aber Clara ließ sich nicht ablenken.
»Macht über die Erzählung, wenn Sie so wollen. Wir würden niemals auf die Idee kommen, unsere Fähigkeiten zu missbrauchen. Das Ziel ist es, eine Geschichte so glaubwürdig wie möglich zu erzählen und die Botschaft eines Textes so wirkungsvoll wie möglich weiterzugeben.«
»Trotzdem gibt es diese Übergriffe«, stellte Jon fest.
»Das ist wahr«, räumte Clara mit einem Nicken ein. »Aber es gibt keine Beweise, dass Empfänger dahinterstehen. Natürlich legen gewisse Umstände die Annahme nahe, dass Lucas Tod von einem Empfänger verschuldet sein könnte. Aber genauso gut könnte er eines natürlichen Todes gestorben sein. Wenn die Gründe für den Tod nicht ganz woanders zu suchen sind.«
»Zum Beispiel?«
»Gift oder Schock«, schlug Clara vor, wenn auch ohne sonderliche Überzeugung.
»Gehen wir trotzdem einmal davon aus, dass es ein Empfänger war, der hinter den Anschlägen stand«, schlug Jon ruhig vor. »Worauf ja auch vieles hinweist. Kann so etwas geschehen, ohne dass Sie etwas davon mitbekommen?«
Alle Blicke am Tisch waren auf Clara gerichtet. Sie schaute kurz an die Decke und zuckte dann mit den Schultern.
»Verneinen kann ich es nicht«, meinte sie. »Aber ich halte es für sehr unwahrscheinlich. Jeder von uns ist sehr eng mit der Gruppe verbunden, und Verrat ist undenkbar. Außerdem haben wir alle von Luca profitiert, nicht nur wegen seines Wesens und seiner Klugheit, sondern auch aus rein praktischen Gründen, weil wir mit ihm trainiert haben. Ohne sein Zutun als Sender wären unsere Fähigkeiten als Empfänger niemals auf einem so hohen Niveau. Katherina ist dafür das beste Beispiel. Hätte Luca sie nicht unter seine Fittiche genommen und
beinahe täglich mit ihr trainiert, wäre sie heute nicht eine der geschicktesten Lettori überhaupt.«
Katherina nickte zustimmend.
»Könnte es jemand gewesen sein, der nicht zur Gruppe gehört?«, hakte Jon nach. »Ein Unbekannter?«
»Theoretisch könnte es ein Vagabund sein«, antwortete Clara nach kurzer Bedenkzeit. »Aber Vagabunden sind in der Regel nicht sonderlich gut trainiert und darum nicht stark genug, um jemand zu töten. Vergessen Sie nicht, dass die meisten gar nicht wissen, was es mit den Fähigkeiten auf sich hat, geschweige denn, wozu sie eingesetzt werden können. Falls sie nicht in eine Nervenklinik eingewiesen werden, landen sie früher oder später bei uns.«
»Kann es ein unglücklicher Zufall sein? Wenn Sie sagen, dass viele ihre eigenen Kräfte gar nicht kennen, wäre es da möglich, dass so ein Vagabund zufällig jemand tötet?«
»Das ist sehr unwahrscheinlich«, sagte Clara eilig. Ihr Blick flackerte nervös von Jon zu Katherina, ehe sie fortfuhr. »Dafür braucht es eine gradweise Verstärkung der Beeinflussung,
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