Die Bibliothek der Schatten Roman
gefunden, die Stimmen auf Distanz zu halten: mit Alkohol. Ich glaube nicht, dass er heute dabei sein wird.«
»Verjagt der Alkohol die Stimmen?«
»Bei manchen werden sie dadurch gedämpft, bei anderen aber nur verzerrt und unverständlich, was noch schlimmer ist. Jeder von uns hat seine eigene Methode, die Stimmen auf einem erträglichen Niveau zu halten. Die Besten von uns können sie mit Hilfe spezieller Techniken runterregeln, während die weniger Begnadeten andere Lösungen anwenden. Einige wiederholen Reime oder bestimmte Bewegungen, um den Fokus zu verschieben, andere greifen zu extremeren Mitteln, indem sie sich selber Schmerz zufügen, sich kneifen oder ritzen.« Sie seufzte. »Aber das Beste ist es, sich in der Gruppe zu treffen.«
»So eine Art Therapie?«
»Gewissermaßen«, sagte Katherina zögernd. »Es hilft einfach, sich mit anderen Menschen zu treffen, die in der gleichen Situation sind wie man selbst - zu wissen, dass man nicht allein ist.« Sie sah Jon tief in die Augen. »Wie du siehst, ist es also unser Ziel, die Gruppe zusammenzuhalten und uns gegenseitig zu unterstützen, und nicht, die Weltherrschaft zu übernehmen oder ein paar Buchhändler zu terrorisieren. Dafür mangelt es uns schlicht und einfach an überschüssiger Energie.«
Jon nickte. Er sah in ihren grünen Augen, dass das mehr als bloße Worte waren.
Dann schlug sie den Blick nieder und massierte sich mit den Fingerspitzen das Kinn.
»Sollten wir nicht bald los?«
Vom Sankt Hans Torv gingen sie durch die Nørre Allé. Kurz vor der Kirche bogen sie in einen Hauseingang ab und stiegen in einem alten Treppenhaus nach oben. Katherina klingelte an einer Tür mit einem großen Messingschild.
»Zentrum für Dyslexiestudien«, las Jon. »Tritt Dyslexie immer in Zusammenhang mit den Empfänger-Fähigkeiten auf?«
»Nicht unbedingt«, antwortete sie leise. »Aber jeder Dritte von uns hat eine Form von Legasthenie, ganz zufällig kann es also nicht sein.«
Sie hörten Schritte hinter der Tür. Ein Schlüssel drehte sich im Schloss, und eine kräftig gebaute Frau machte ihnen auf. Über ihr rundes Gesicht zog sich ein breites Lächeln, als sie die beiden sah.
»Kommen Sie herein«, sagte sie und trat zur Seite. »Die anderen sind schon da.«
Katherina und Jon traten in den Flur, und die vielen Jacken und Mänteln sagten ihnen, dass mindestens 20 Personen auf sie warteten.
»Ich bin Clara«, stellte die Frau sich vor und begrüßte Jon
mit einem kräftigen Händedruck. »Normalerweise bin ich Leiterin dieses Zentrums.«
»Jon Campelli«, erwiderte Jon.
»Sie brauchen sich nicht vorzustellen«, lachte sie. »Es ist unglaublich, wie ähnlich Sie ihm sind. Luca, meine ich. Außerdem habe ich Sie bei der Beerdigung gesehen.«
Nachdem sie sich ihrer Jacken entledigt hatten, führte Clara sie durch den langgestreckten Eingangsbereich auf eine offene weiße Flügeltür am Ende des Ganges zu. Aus dem Raum dahinter ertönte Stimmengewirr. Das Gemurmel verstummte, als Jon den Raum betrat. Um einen ovalen Sitzungstisch und an den Wänden saßen gut 20 Personen.
»Guten Tag«, sagte Jon und hob die Hand. Die Anwesenden antworteten mit einem Murmeln oder Nicken.
»Setzen Sie sich hier ans Ende«, schlug Clara vor und zeigte auf zwei freie Plätze am Tisch.
Jon und Katherina setzten sich, aufmerksam beobachtet von den Anwesenden. Clara nahm am anderen Ende des Tisches Platz.
»Wie ich bereits angekündigt habe, haben wir heute das Vergnügen, Lucas Sohn Jon kennen zu lernen. Katherina ist ja allen bekannt.« Clara lächelte. »Lasst mich zuerst mein tiefes Bedauern über Lucas Tod aussprechen. Er war uns allen ein naher Freund und wurde als Mitglied der Gruppe betrachtet. Wir vermissen ihn sehr.« Vereinzeltes Nicken und zustimmendes Raunen aus allen Richtungen.
Jon bedankte sich mit einem Nicken. Er stellte fest, dass die Frauen in der Überzahl waren, sie machten ungefähr zwei Drittel der Anwesenden aus. Leider konnte er nicht alle Gesichter erkennen. Die Personen am Tisch wurden von einer länglich ovalen Lampe über ihren Köpfen angestrahlt, aber die an den Wänden Sitzenden wurden halb vom Dunkel verschluckt.
»Darum wollen wir natürlich alles tun, was in unserer
Macht steht, um herauszufinden, was genau passiert ist«, fuhr Clara fort. »Wir haben die Vorfälle der letzten Zeit mit Besorgnis verfolgt. Nichts von dem, was geschehen ist, hatte irgendeinen Nutzen für uns, am allerwenigsten Lucas Tod.«
»Welche Funktion hatte
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