Die Bibliothek der Schatten Roman
die wiederum Training und Selbstkontrolle voraussetzt.«
»Und es hat niemand die Gruppe verlassen, nachdem er die nötigen Fähigkeiten erreicht hat? Jemand, der einen Grund haben könnte, sich wegen irgendetwas zu rächen?«
»Nein«, antwortete Clara mit Bestimmtheit.
Jon sah die Personen an, die vom Schein der Lampe eingefangen wurden. Zwei flüsterten miteinander, ein paar andere saßen mit verschränkten Armen da, als warteten sie gespannt auf einen besseren Vorschlag.
»Wenn das Motiv also weder Rache noch Macht ist«, fasste Jon zusammen, »was dann?«
Man hätte eine Stecknadel fallen hören können. Es wurden Blicke gewechselt, aber die meisten Anwesenden richteten ihre Aufmerksamkeit auf Clara.
»Ich habe weder Rache noch Macht als Motiv ausgeschlossen«,
begann Clara, erstmals mit einem harten Unterton in der Stimme. »Ich habe nur gesagt, dass es außerordentlich zweifelhaft ist, dass einer von uns von diesen Motiven getrieben wird. Unserer Meinung nach wird mit diesen Vorfällen bezweckt, die Wiedervereinigung der Bibliophilen Gesellschaft zu verhindern. Da ist jemand aktiv, der etwas zu verlieren hat, in Form von Macht oder Prestige. Das Timing ist nicht zufällig. Warum sonst setzen die Anschläge nach 20 Jahren Trennung wieder ein, als es plötzlich eine Aussicht auf Versöhnung gibt?«
Sie holte tief Luft. »Es würde mich nicht überraschen, wenn hinter den neuesten Anschlägen die gleichen Personen stehen wie vor 20 Jahren. Jemand, der damals eine gewisse Position erlangt hat, die er heute zu verlieren fürchtet.«
Jon hielt Claras Blick fest. Die eigentlich so joviale Frau verzog keine Miene und wich seinem Blick nicht aus. Die Umsitzenden ließen sie nicht aus den Augen, als hätten sie Wetten laufen, wer von beiden als Erster blinzeln würde.
»Das ist eine ernste Anschuldigung«, stellte Jon schließlich fest.
Clara zuckte mit den Schultern.
»Die Situation ist ernst. Wir werden bedroht, es geht um Leben und Tod.«
»Bis jetzt hatten allerdings die Sender die größten Verluste zu verzeichnen«, gab Jon zu bedenken. »Heute Nacht ist Lee gestorben. Die Polizei geht von Selbstmord aus, aber Kortmann ist anderer Meinung.«
Clara nickte, als wüsste sie bereits Bescheid, aber etliche Anwesende flüsterten aufgebracht und schauten überrascht in die Runde.
»Das kann ich mir denken«, sagte sie. »Auch wenn wir Lee nicht gut kannten, tut uns sehr leid, was geschehen ist. Aber das ändert nichts an unserem Verdacht. Lee ist nicht alt genug, um an den Ereignissen vor 20 Jahren beteiligt gewesen zu sein,
und das alleine könnte für diejenigen, die dahinterstehen, ein Risiko sein. Vielleicht ist er ihnen ja in die Quere gekommen.«
»Aber vielleicht hat er tatsächlich Selbstmord begangen«, meinte Jon. »Die Polizei hat einen Abschiedsbrief mit seiner Unterschrift gefunden.«
»Die Frage ist nicht, ob er Selbstmord begangen hat oder nicht«, erklärte Clara. »Denn das hat er ganz offensichtlich. Kortmann ist nicht der Einzige, der Verbindungen zur Polizei hat.« Sie lächelte. »Die Frage ist, was ihn dazu getrieben hat.«
»Er kam mir nicht vor wie jemand, der sich zu so etwas Drastischem zwingen ließe«, bemerkte Jon.
»Umso mehr Grund, skeptisch zu sein«, erwiderte Clara und verstummte, obgleich ihr eine Fortsetzung des Satzes offensichtlich bereits auf der Zunge lag.
Jon hatte das vage Gefühl, etwas zu übersehen. Clara betrachtete ihn abwartend, fast neugierig, als hätte sie ihm den ersten Teil eines Satzes hingeworfen, den er vervollständigen sollte.
»Sie vergessen, dass der Mann, den Sie anklagen, der Initiator dieses Treffens ist.«
»Das habe ich ganz und gar nicht vergessen«, antwortete Clara mit einem schiefen Grinsen. »Was könnte ihm lieber sein, als diese Untersuchung von jemand durchführen zu lassen, der nicht zur Gesellschaft gehört, jemand, der nichts über seine Fähigkeiten weiß und den er glaubt beeinflussen zu können?«
Jon wollte protestieren, aber Clara hinderte ihn daran, indem sie ganz leicht die Hand hob.
»Aber ich glaube, er hat sich verrechnet, Jon. Möglicherweise stellt sich ja heraus, dass er die richtigen Entscheidungen getroffen hat, nur eben aus den falschen Gründen. Ihre Bedingung, Katherina an der Untersuchung teilnehmen zu lassen, hat uns davon überzeugt, dass Sie genau der Richtige für diese
Aufgabe sind.« Sie lächelte, dieses Mal freundlich und entgegenkommend, wie als Entschuldigung.
»Danke für Ihr Vertrauen«,
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