Die Bibliothek der Schatten Roman
Armbanduhr.
»Alles klar«, sagte er mit einem schiefen Grinsen und trat beiseite. »Kommen Sie doch rein.«
»So spät noch am Arbeiten?«, bemerkte Jon, als sie ins Wohnzimmer kamen. Muhammed hatte Licht gemacht, damit sie unbeschadet zwischen den bedrohlichen Stapeln von Gewinnprämien hindurchkamen.
»Ich habe schließlich keinen Bürojob von neun bis vier«, erwiderte Muhammed, während er einige Kartons vom Sofa hievte, damit sie sich setzen konnten. »Mein Spielfeld ist die ganze Welt mit all ihren Zeitzonen, und danach richtet sich auch meine Arbeitszeit.«
»Also ein 24-Stunden-Sklavenjob?«
»So was in der Art.« Muhammed quittierte seine Antwort mit einem kurzen Lachen. »Und wie sieht es bei Ihnen aus, Katherina, womit vertreiben Sie sich die Zeit?«
»Mit Büchern«, antwortete Katherina und fügte hinzu: »Ich arbeite in einem Buchladen.«
»Really?«, platzte Muhammed heraus, und sein Blick huschte über die Kartons im Wohnzimmer. »Ich habe zufälligerweise …«
»Wir sind nicht gekommen, um mit Ihnen Geschäfte zu machen«, fiel Jon ihm ins Wort und hob abwehrend die Hände. »Katherina arbeitet im Antiquariat meines Vaters, das ich geerbt habe.«
»Okay, okay«, sagte Muhammed und musterte Jon neugierig. »Ich bin auch nicht davon ausgegangen, dass Sie nachts um drei hier vorbeikommen, um Arztromane zu kaufen. Sie sind hier, um etwas über den Rechner des Computer-Nerds zu erfahren.«
Jon nickte.
Muhammed sah seine beiden Gäste nacheinander an.
»Stand er einem von Ihnen sehr nah?«
»Nein«, antworteten Katherina und Jon im Chor.
»Ich habe ihn nur ein einziges Mal getroffen«, sagte Jon. »Ein flüchtiger Bekannter.«
»Okay«, sagte Muhammed erleichtert. »Eigentlich ist es nicht ganz korrekt, ihn als Nerd zu bezeichnen. Nerds sind okay. Sie brennen für eine Sache, ob es nun Briefmarken, Flugzeuge oder Computer sind - warum nicht. Ihr … Bekannter Lee war eher ein Wannabe. Der Typ hat sich mit Computern beschäftigt, aber ihm fehlte das Talent oder die Ausdauer zum echten Nerd. Trotzdem hat er durch den Gebrauch der richtigen Buzzwords und Referenzen versucht, sich bei ihnen einzuschleichen.« Er räusperte sich. »Viele Leute glauben, Nerds wären Verlierer, aber die wirklichen Verlierer sind die Wannabes, die Bluffer, die glauben, sich so Respekt verschaffen zu können - sehr uncool.«
»Immerhin hatte er einen Job in der IT-Branche«, warf Jon ein. »So schlecht kann er also nicht gewesen sein.«
»Man muss nicht unbedingt ein Nerd sein, um einen IT-Job zu kriegen«, merkte Muhammed an. »Im Gegenteil. Wannabes können durchaus gut in ihrem Job sein. Nerds sind schwerer zu kontrollieren, sie haben ihre eigenen Ideen und lassen sich nur ungern vorschreiben, wie sie ihre Arbeit zu machen haben.«
Für Jon war ein Nerd immer jemand mit ungepflegtem Äußeren gewesen, der 24 Stunden vor dem Computer hockte, sich von Pizza und Cola ernährte und Probleme mit dem anderen
Geschlecht hatte. Das war nicht abwertend gemeint, es hieß nur, dass ein Nerd mehr konnte, als das Textverarbeitungsprogramm zu starten. Erst später hatte die Bezeichnung »Nerd« nach und nach Ausdrücke wie »Exzentriker« oder »Fanatiker« ersetzt, die die Faszination und Manie widerspiegelten, die auch den Briefmarkensammler auszeichneten. In diesem Sinne konnten Luca und die Kunden des Libri di Luca als »Büchernerds« bezeichnet werden, auch wenn sie sicher den Ausdruck »Bibliophile« bevorzugten.
Seit Jon Muhammed kannte, hatte sich seine Einstellung zu Nerds gewandelt. Muhammed war sehr gepflegt und social adept . Er hatte einen großen Bekanntenkreis und Interessen, die weit über den Computer hinausgingen. Und er stammte aus einer türkischen Familie mit dunklem Teint, was dafür sorgte, dass er sehr viel gesünder als der Nerd-Stereotyp aussah - den sich Jon immer als blassen, pickeligen Teenager mit Brille vorstellte.
»Ich sehe mich nicht als Nerd«, verkündete Muhammed, als hätte Jon laut gedacht. »Und ich führe mich auch nicht so auf.« Er ging zurück an den Schreibtisch und holte einen Stapel ausgedruckte Blätter. »Lee schon. Er war in diversen Nerd-Diskussionsforen angemeldet und hat ganz offensichtlich versucht, sich bei den ganz Großen einzuschleimen. Seine Antworten und Beiträge sind im Grunde ziemlich banal und zeigen, dass er nicht wirklich Ahnung von den Themen hatte, mit denen er jonglierte.«
»Was sind das für Diskussionsforen?«, wollte Jon wissen.
»Die meisten
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