Die Bibliothek der Schatten Roman
Butterbrotpapiere lagen. »Mit Peperoni und extra Champignons.« Er seufzte. »Naja, aber jetzt erzählt ihr mal, was ihr erlebt habt.«
Katherina und Jon erzählten ihm abwechselnd, was seit dem Brand geschehen war - von dem Besuch bei Kortmann, dem Treffen in der Bibliothek in Østerbro, Lees Selbstmord und der Besprechung mit den Empfängern. Während des ganzen Berichts hörte Iversen ihnen ernst und aufmerksam zu. Als sie zum Ende gekommen waren, schüttelte er den Kopf.
»Paw hat mir von Lee erzählt, als er hier war. Das ist wirklich schrecklich.«
»Was glaubst du?«, wollte Jon wissen. »War es Selbstmord?«
»Wenn du mich fragst, ob er selbst die Überdosis genommen hat, lautet meine Antwort: ja. Viel interessanter ist die Frage, was vorher passiert ist.« Iversens Augen flackerten einen Moment zwischen Jon und Katherina hin und her. »Was hat sein Gemüt derart verfinstert, dass er nur noch diesen Ausweg gesehen hat?«
»Laut Polizei war er ein typischer Fall: Einzelgänger, verschlossen und leicht paranoid«, schlug Jon vor.
»Ja, sicher«, räumte Iversen ein. »Mag sein, dass er so disponiert war. Aber trotzdem braucht es mehr als nur einen kleinen Schubser, um jemand in den Selbstmord zu treiben. Was hat er gelesen?«
»Kafka«, antwortete Jon verwundert. »Kortmann hat das Gleiche gefragt.«
Iversen nickte.
»Kafka kann man auf vielerlei Arten lesen. Manche lesen seine Bücher als Satire, andere empfinden sie als albtraumhafte Gesellschaftsstudien. Man muss in Kafkas Texten nicht lange nach Entmutigung und Hilflosigkeit suchen, und verstärkt man das an den richtigen Stellen, ist es nicht weit bis zur Depression.«
»Verstärkt durch einen Empfänger?«, fragte Jon.
»Im Prinzip kann ein Sender bei einer Lesung das Gleiche erreichen«, antwortete Iversen. »Aber das würde bedeuten, dass Lee nicht allein war. Für einen Empfänger wäre das viel leichter. Der Betreffende müsste sich nicht einmal im gleichen Raum befinden, und wenn er es subtil genug angestellt hat, hat Lee wahrscheinlich gar nicht gemerkt, dass er manipuliert wurde. Er wird das als kräftige Depression empfunden haben, die ihn so aus der Bahn geworfen hat, dass er sich schließlich das Leben genommen hat.«
»Wegen Kafka?«
»Vermutlich könnte man die meisten Texte dafür nutzen, aber Kafka hat diese unterschwellige Melancholie, mit der man den Einfluss unauffälliger ausüben kann.«
Katherina hatte während des Gesprächs geschwiegen. Ihr war schnell klar geworden, in welche Richtung es ging, und auch wenn sie es sich nur ungern eingestand, bestätigten die Überlegungen der beiden Männer doch den Verdacht, der ihr selbst gekommen war. Es gab keinen Zweifel mehr, ein Empfänger musste in die Geschehnisse verwickelt sein. Von dem Moment an, in dem sie erlebt hatte, wie Iversen zitternd im Bett gesessen hatte, außer Stande, seinen Körper zu kontrollieren, war es ihr vollkommen klar geworden. Auch Iversens Überlegungen zu Lees Selbstmord deuteten in diese Richtung und verstärkten die Zweifel an Lucas natürlichem Tod. In Gedanken ging sie alle Empfänger durch, die sie kannte. Einen nach dem anderen. Suchte nach Motiven und Fähigkeiten, konnte aber nichts finden.
»Im Übrigen irrt sich Clara, was die Vagabunden angeht«, sagte Iversen, als hätte er ihre Gedanken gelesen. »Ich weiß, dass es mindestens einen Empfänger gibt, der im Laufe der Jahre ausgeschlossen worden ist.«
SECHZEHN
A n Katherinas Reaktion erkannte Jon, dass das auch ihr neu war. Sie richtete sich auf und beugte sich ein wenig vor, um besser zu hören.
»Wer?«, fragten Jon und Katherina wie aus einem Munde.
»Merkwürdig, dass ich nicht eher daran gedacht habe«, wunderte sich Iversen kopfschüttelnd. »Das ist allerdings auch recht lange her.« Er schloss die Augen für ein paar Sekunden. »Tom«, begann er unvermittelt und schlug die Augen wieder auf. »Er hieß Tom. Nørregård oder Nørrebo, so was in der Richtung. Tom war Empfänger, er war gut, aber ein ziemlicher Einzelgänger, erinnere ich mich.« Iversen nickte Katherina zu. »Das war lange vor deiner Zeit. Wenn ich’s mir genau überlege, müsste es …« Er sah Jon mit aufgerissenen Augen an. »Ich glaube, das ist über 20 Jahre her. Zumindest lebte deine Mutter noch, da bin ich mir ganz sicher.«
»Was ist damals passiert?«, fragte Jon. »Wieso wurde er ausgeschlossen?«
»Irgendeine Frauengeschichte«, erklärte Iversen. »Tut mir leid, aber mein Gedächtnis ist nicht
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