Die Bibliothek der Schatten Roman
mehr das, was es mal war, und es ist ja auch schon so lange her. Wenn ich mich recht entsinne, hat er damals seine Fähigkeiten missbraucht, um mit einer Frau in Kontakt zu kommen. Die Gerüchte sagten, es seien mehrere Frauen gewesen, aber bei dieser einen ist es eben aufgeflogen, so dass er aus der Gesellschaft ausgeschlossen wurde. Tom war ein enger Freund deines Vaters. Und ausgerechnet Luca ist ihm auf die Spur gekommen und hat die schwere Pflicht übernommen, ihn zu verbannen.«
»Verbannung? Das klingt hart«, sagte Katherina.
Iversen zog die Schultern hoch.
»Es ging um mehrfache Grenzüberschreitungen, und wenn wir einander nicht mehr vertrauen können - was soll man dann machen?«
»Aber war es nicht riskanter, ihn frei herumlaufen zu lassen?«, wollte Jon wissen. »Bestand keine Gefahr, dass er über die Fähigkeiten erzählte und damit der Bibliophilen Gesellschaft den Todesstoß versetzte?«
»Luca hielt es für die beste Lösung«, antwortete Iversen. »Und damals hat niemand seine Entscheidungen in Frage gestellt. Luca war der Vorsitzende der Gesellschaft, und es war ihm offensichtlich gelungen, Tom klarzumachen, dass er falsch gehandelt hatte. Aber das Geschehene war nicht mehr rückgängig zu machen. Zum einen, weil Tom außer deinem Vater niemand mehr vertraute, und zum anderen, weil ihm laut Luca die Vorfälle so furchtbar peinlich waren, dass er uns nicht mehr in die Augen sehen konnte. Wir haben ihn nie wiedergesehen.«
»Das klingt nicht nach einem ausgeprägten Rachebedürfnis«, bemerkte Katherina.
»Nein, den Eindruck hatte ich auch nie«, bestätigte Iversen. »Luca hatte als Letzter mit ihm Kontakt, er hat nie erwähnt, dass Tom besonders aufgebracht oder verbittert war. Aber von der Zeit her passt es verdammt gut.«
»Aber warum sollte er nach so langer Zeit mit der Gesellschaft abrechnen?«, hakte Jon nach. »Damals hätte man es mit seiner Enttäuschung erklären können, aber jetzt? Wieso sollte er die Anschläge damals plötzlich eingestellt haben, um 20 Jahre später wieder damit anzufangen?«
Sie sahen sich an, aber keiner hatte eine Antwort.
»Nørreskov«, platzte Iversen so überraschend heraus, dass Katherina zusammenzuckte. »Er hieß Tom Nørreskov.«
»Wir müssen versuchen, ihn zu finden«, entschied Jon. »So
viele Leute mit diesem Namen wird es in Dänemark ja wohl nicht geben.«
»Möglicherweise erkennst du ihn sogar wieder, wenn du ihn siehst. Er war häufig im Libri di Luca, als du noch bei deinen Eltern lebtest.« Sein Blick wanderte zu Katherina. »Aber das war lange vor deiner Zeit. Als du ins Libri di Luca gekommen bist, war er schon lange nicht mehr in der Gesellschaft. Es wundert mich nur, dass Clara ihn nicht erwähnt hat. Auch sie hat ihn gekannt.«
»So lange ich dabei bin, habe ich nie etwas von irgendeinem Ausschluss gehört«, meinte Katherina. »Vielleicht redet man darüber genauso ungern wie über die schwarzen Schafe der Familie.«
Iversen nickte. Er sah mit einem Mal müde aus, hatte die Hände über dem Bauch gefaltet und den Kopf auf die Nackenrolle gelegt.
Jon rutschte auf die vordere Stuhlkante.
»Wir lassen dich jetzt besser mal schlafen, Iversen.«
Er wollte protestieren, aber Katherina stimmte Jon zu. Sie standen beide auf.
»Wir sind im Zimmer nebenan«, erklärte Jon mit einem Nicken zur Wand.
»Nichts da«, protestierte Iversen. »Fahrt nach Hause. Ihr habt Wichtigeres zu tun, als einen alten, müden Mann zu bewachen.« Er hob die Hand zum Schwur. »Ich verspreche auch, dass ich kein Buch aufschlage, wenn ihr nicht bei mir seid.«
Jon wusste, dass Muhammed trotz der fortgeschrittenen Nachtstunde sicher noch wach war, und da es vom Reichshospital im Blegdamsvej nicht weit bis in die Stengade war, beschlossen sie, ihm einen Besuch abzustatten.
Er saß mit seinem Headset auf dem Kopf reglos im bläulichen Schein seiner Bildschirme in einem ansonsten dunklen Raum. Jon und Katherina mussten kräftig an die Scheibe
klopfen, ehe er reagierte und seinen Blick widerwillig auf die Terrassentür richtete. Als er draußen allerdings Jon erkannte, breitete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus. Er setzte das Headset ab und erhob sich von seinem Stuhl.
»Hallo, Chef«, begrüßte er Jon, als er die Tür aufstieß. Erst jetzt entdeckte er Katherina im Dunkeln hinter Jon. »Und Sie sind …?«
»Katherina«, stellte Jon sie rasch vor. »Eine Freundin.«
Muhammeds Blick sprang von Katherina zu Jon und dann auf seine
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