Die Bibliothek der Schatten Roman
erwartet hätte.«
Jon machte große Augen.
»Er hat Ihnen vorgelesen?«, fragte er.
»Ja«, bestätigte Halbech gereizt.
»Am Telefon?«
»Nein«, antwortete Halbech irritiert. »Ich sagte doch, dass er gestern hier war. Er hatte Kopien von Ihrem Briefwechsel dabei, von denen er mir ein paar Beispiele vorgelegt hat, und ich muss schon sagen …«
Jon hörte nicht mehr zu. Er stellte sich vor, wie Remer Halbech vorlas, dem Kompagnon der Anwaltskanzlei, der aufmerksam und entgegenkommend lauschte, was die berüchtigte Cash-Cow der Firma zu sagen hatte. Jon wusste, wie Betonungen in einem Text wirken konnten, auch bei ganz normalen Menschen, doch wenn er obendrein davon ausging, dass Remer ein Sender war, hatte Halbech keine Chance gehabt. Remer hatte ihm das Material so subtil präsentiert, dass Halbech aufrichtig davon überzeugt war, sich eine ganz persönliche Meinung zu dem vorgelegten Material gebildet und eine unabhängige Schlussfolgerung gezogen zu haben.
»… darum haben wir entschieden, Sie von dem Fall abzuziehen«, schloss Halbech und streckte Jon die Handflächen entgegen, wie um zu zeigen, dass es nicht mehr in seinen Händen lag.
»Okay«, sagte Jon resigniert und machte Anstalten, sich zu erheben.
»Und«, fuhr Halbech mit lauter Stimme fort, so dass Jon doch noch sitzen blieb, »wir sehen uns genötigt, Ihre Anstellung zu überdenken.«
Jon starrte den Mann schockiert an.
»Diese Kanzlei hat keinen Bedarf an Leuten, die unsere
Mandanten nicht ernst nehmen«, erläuterte er, ohne zu blinzeln. »Die Mandanten kommen zu uns, weil sie aus dem einen oder anderen Grund in der Klemme stecken, und es ist unsere verdammte Pflicht, uns professionell um sie zu kümmern. Wenn sich herumspricht, dass wir unseriös arbeiten, ganz egal, ob es wahr ist oder nicht, sind wir in der Branche erledigt.«
»Was versuchen Sie mir damit zu sagen?«
»Dass Sie gefeuert sind«, antwortete Halbech knapp, ohne den Blick von Jon zu nehmen. »Sie sind sofort freigestellt. Packen Sie Ihre persönlichen Gegenstände zusammen und verlassen Sie auf der Stelle das Gebäude.«
Jon wusste, dass ihm die Hände gebunden und alle Argumente oder Erklärungen sinnlos waren. Diese Runde hatte Remer gewonnen, eindeutig. Jon schaute auf seine Hände, als wären sie es, die ihn von der Arbeit abgehalten hatten. Er spürte einen gewaltigen Zorn in sich aufsteigen und biss die Zähne zusammen. Halbech war nicht der eigentliche Feind, er handelte in dem festen Glauben, sein Unternehmen zu schützen.
»Gut«, nickte Jon und stand auf.
»Jenny wird Sie nach draußen begleiten«, verkündete Halbech mit einem Nicken zur Tür. »Machen Sie’s gut, Campelli.«
Jon drehte sich ohne Abschiedsgruß um und ging zur Tür. Jenny stand auf dem Flur und knetete ihre Hände, ihre Augen waren blank.
»Es tut mir so leid, Jon«, sagte sie.
»Ist schon okay«, tröstete Jon und umarmte sie. Sie zitterte leicht und hielt ihn lange fest, bis er sich vorsichtig räusperte.
Jenny ließ ihn widerstrebend los. »Ich muss Sie um Ihr Handy und die Autoschlüssel bitten«, erklärte sie ihm mit tränenerstickter Stimme und entschuldigendem Blick.
Jon nickte. »Bringen wir es hinter uns.«
Zehn Minuten später stand er ohne Job, Handy und Auto auf dem Bürgersteig. Er konnte sich nicht entscheiden, was
der größte Verlust war. Die Arbeit hatte ihm einen gewissen Lebensstandard gesichert und das Auto Beweglichkeit, aber ohne Handy fühlte er sich einsam, isoliert und unfähig, jemand anzurufen, der ihm helfen konnte. Er versuchte sich einzureden, dass das alles Nonsens war, dennoch dauerte es eine ganze Weile, ehe er eine funktionierende Telefonzelle fand, die er dann aber doch nicht nutzte. Wen sollte er anrufen? Sämtliche Telefonnummern waren in dem Handy gespeichert, das er gerade abgegeben hatte. Außerdem kam es ihm viel indiskreter vor, mitten in der Fußgängerzone aus einer Telefonzelle zu telefonieren als mit seinem Handy.
Jenny hatte ihm heimlich einen Taxigutschein zugesteckt, aber er ließ ihn in der Tasche stecken und ging zu Fuß nach Hause. Unterwegs nutzte er die Gelegenheit, seine Gedanken zu sortieren. Die Wut rumorte noch immer in seinem Bauch, aber es verschaffte ihm immerhin eine gewisse Befriedigung, zu wissen, auf wen er sie richten konnte: Remer und die Schattenorganisation. Sie hatten Lucas Leben zerstört und es jetzt auf Jon abgesehen. Sie hatten ihm genommen, was er am meisten liebte, seine Arbeit. Zumindest glaubten sie
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