Die Bibliothek der Schatten Roman
durch die frisch geputzten Fenster, und das Weiß des Dielenbodens und der Wände blendeten ihn so, dass er die Augen zusammenkneifen musste. Er ging zu dem schwarzen Ledersofa und ließ sich mit einem tiefen Seufzer darauf fallen. Das einzige andere Möbelstück in diesem Raum war ein breites graues, halbhohes Regal an der gegenüberliegenden Wand. Darauf standen der Flachbildschirm und die Surround-Anlage. An der Wand hinter ihm und zwischen den Fenstern hingen schmale, schwarze Stoffstreifen mit roten und silbernen chinesischen Schriftzeichen.
Jon beugte sich vor, nahm den Zeitschriftenstapel, legte ihn auf den Boden und schob ihn mit dem Fuß weiter unters Sofa. Das Letzte, wozu er jetzt Lust hatte, war Lesen.
Während er auf dem Sofa saß und auf den toten Fernsehbildschirm starrte, versank die Sonne hinter den Dachfirsten. Weiches, warmes Licht füllte den Raum. Er konnte sich nicht mehr aus dieser endlosen Gedankenkette aus Fragen und Theorien befreien. Wie ein Film in einer Endlosschleife. Der Kontrast zwischen seinen eigenen Kindheitserinnerungen und Tom Nørreskovs Version der Geschichte machte es ihm unmöglich auszusteigen. Am Ende veranlasste ihn nur sein knurrender Magen, das Sofa zu verlassen und sich in die Küche zu begeben, wo er sich mit dem versorgte, was er im Schrank fand. Danach schleppte er sich ins Bett.
Nach einer schlaflosen Nacht beschloss Jon, zur Arbeit zu fahren. Er wollte auf andere Gedanken kommen und den Anschluss an sein altes Leben nicht verlieren, das ihm so fremd und fern vorkam, dass er sich bemüßigt fühlte, nachzusehen, ob es tatsächlich existierte oder ob er das alles nur geträumt hatte.
Jenny nickte ihm freundlich zu, als er die Kanzlei betrat, sagte aber nichts. Jon glaubte in ihrem Blick eine Mischung aus Erleichterung und Besorgnis zu erkennen. Woher die Besorgnis kam, erfuhr er nach etwa einer Stunde, als er in Halbechs Büro bestellt wurde.
»Guten Tag, Campelli«, begrüßte ihn Frank Halbech geschäftsmäßig, nachdem Jon die Tür hinter sich geschlossen und im Sessel vorm Schreibtisch seines Arbeitgebers Platz genommen hatte. »Wie schön, Sie auch mal wieder bei uns zu sehen.«
Jon, der schon darauf vorbereitet war, sich für seine freien Tage verteidigen zu müssen, nickte.
»Ja, ich habe mir erlaubt, ein paar Überstunden abzufeiern. Es gibt doch noch das eine oder andere abzuwickeln nach dem Tod meines Vaters, und da ich im Fall Remer nicht viel machen kann, solange unser Mandant uns die Informationen vorenthält, die wir brauchen, dachte ich, das ginge in Ordnung.«
Halbech verzog keine Miene, sondern starrte Jon nur durchdringend an.
»Ich habe versucht, ihn zu einer Antwort auf meine Anfragen zu bewegen«, fuhr Jon fort. »Aber entweder ist er nicht anzutreffen oder er bringt Dinge in den Fall ein, die nichts mit der Anklage zu tun haben.«
»Das stimmt nicht ganz mit seiner Darstellung überein«, widersprach Halbech und lehnte sich mit verschränkten Armen zurück. »Ich habe gestern mit ihm gesprochen, da Sie nicht da waren. Er möchte, dass Ihnen der Fall entzogen wird.«
Jon strengte sich an, sich seine Überraschung nicht anmerken zu lassen.
»Remer behauptet, Sie wären unengagiert, faul und unseriös«, fuhr Halbech fort. »Laut seiner Aussage hat er Ihnen die ganze Zeit über zur Verfügung gestanden, und er hat behauptet, er habe letztendlich selbst mit Ihnen Kontakt aufnehmen müssen, um einen Einblick in Ihre geplante Vorgehensweise zu bekommen.«
Jon schüttelte den Kopf.
»So ist es ganz und gar nicht gewesen«, setzte er an. »Remer war die ganze Zeit über nicht zu sprechen, und er hat auch keine E-Mails beantwortet.«
»Auf jeden Fall müssen Sie etwas getan haben, das ihn verärgert hat, Campelli«, erklärte Halbech und beugte sich vor. »Remer investiert einen Haufen Geld in diese Firma. So viel, dass wir es uns nicht leisten können, ihn wegen irgendwelcher Familienangelegenheiten eines unserer Mitarbeiter zu verlieren. Der Tod Ihres Vaters ist natürlich bedauerlich, aber das darf sich nicht auf Ihre Arbeit auswirken.«
»Das hat es meiner Meinung nach auch nicht«, erwiderte Jon, ohne seine Empörung verbergen zu können. »Ich zeige Ihnen gerne die Korrespondenz, die …«
»Danke«, unterbrach ihn Halbech. »Ich bin über die Korrespondenz
auf dem Laufenden. Remer hat mir einige Auszüge vorgelesen, und ich muss gestehen, dass ich unserem wichtigsten Mandanten gegenüber einen etwas professionelleren Ton von Ihnen
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