Die Bibliothek der Schatten Roman
das. Jon selbst kamen allmählich Zweifel. Die Ereignisse der letzten Tage hatten seine Anwaltskarriere in den Hintergrund gedrängt, und er war auch gar nicht mehr sicher, ob dieser Job tatsächlich das war, wofür er brannte. Er wollte sein Leben selbst gestalten und sich nicht einfach nur treiben lassen.
Als er wieder in seiner Wohnung war, rief er Katherina an.
Danach ging alles sehr schnell. Katherina rief nach weniger als zehn Minuten zurück. Sie hatte mit Iversen gesprochen, der im Laufe des Tages aus dem Krankenhaus entlassen werden sollte, und der hatte vorgeschlagen, die Aktivierung oder Séance, wie sie es nannten, schon am folgenden Tag vorzunehmen. Jon fragte, ob er sich irgendwie darauf vorbereiten
könnte, doch Katherina riet ihm bloß, sich zu entspannen. Und das tat er, in Gesellschaft einer Flasche Rotwein. Der Abend endete damit, dass er auf dem Sofa einschlief, wo er am nächsten Morgen auch aufwachte.
Bei Tageslicht sah alles ganz anders aus. Er war mehrmals kurz davor, Kurt Halbech anzurufen und ihm zu erklären, wie alles zusammenhing, aber dann stellte er sich jedes Mal das entstehende Gespräch vor und ließ es bleiben. Außerdem verhinderten seine höllischen Kopfschmerzen jeden klaren Gedanken und erinnerten ihn daran, wie lange es her war, dass er alleine eine ganze Flasche Wein geleert hatte.
Die Séance sollte nach Ladenschluss im Libri di Luca stattfinden, er hatte also noch genügend Zeit, sich zu erholen. Nachmittags aß Jon eine solide Portion Boeuf Stroganoff, die er ausnahmsweise einmal von Grund auf in seiner Küche zubereitet hatte. Danach nahm er ein Taxi zum Libri di Luca, wo Iversen ihn bereits erwartete.
Abgesehen von ein paar Wunden im Gesicht war Iversen wieder der Alte, und er schien nach dem ersten langen Arbeitstag nach seinem Krankenhausaufenthalt nicht einmal erschöpft zu sein.
»Es tut so gut, wieder hier zu sein«, sagte er mit einem glücklichen Lächeln und ließ den Blick durch das Ladenlokal schweifen. »Katherina hat sich hervorragend um das Geschäft gekümmert. Ich habe ihr heute freigegeben, aber zur Aktivierung wird sie kommen. Paw auch.«
»Ist das nötig?«, fragte Jon, der merkte, wie sich ein Gefühl von Unruhe in ihm ausbreitete.
»Der Effekt ist umso besser, je mehr Personen anwesend sind«, erklärte Iversen. »Besonders Katherina ist wichtig. Als Empfängerin hat sie die Möglichkeit, deine Fähigkeiten zu lenken, falls sich zeigen sollte, dass du wie dein Vater ein Sender bist.«
»Und wenn ich das nicht bin?«
»Wenn du ein Empfänger bist wie Katherina, müssen wir behutsam vorgehen. Nicht, weil eine Gefahr für dich besteht, sondern für mich als Vorleser des Textes, den wir benutzen. Du wirst während der Aktivierung nicht wissen, wie du die neuen Fähigkeiten kontrollieren kannst.«
»Und was ist, wenn ich überhaupt keine Fähigkeiten habe?«, erkundigte sich Jon.
»Ich bin ganz sicher, dass du die hast, Jon. Ich habe schon das eine oder andere bei dir gespürt. Die Campelli-Tradition lässt vermuten, dass du ein Sender bist, aber das lässt sich mit Sicherheit erst dann sagen, wenn die Séance überstanden ist.«
»Tut das weh?«
»Nicht, wenn du dich entspannst und öffnest«, antwortete Iversen. Sperrt man sich, kann eine Aktivierung bisweilen auch schmerzhaft sein. Bei einer vollständigen Blockade funktioniert sie gar nicht, egal wie sehr wir auf dich einwirken. Die meisten sind am Anfang etwas nervös und können sich nicht richtig fallen lassen. Aber sobald sie merken, dass es entspannt viel einfacher geht, verläuft der Rest schmerzfrei.«
»Das klingt, als hättest du schon einer Reihe Séancen beigewohnt.«
»Genau genommen nur drei.« Iversen lächelte verlegen. »Wovon die eine meine eigene Aktivierung war.«
Jon lachte. »Na, da geht’s mir doch gleich viel besser!«
Iversen musterte Jon eingehend.
»Es liegt nicht in meiner Absicht, dich nervös zu machen, aber es ist nun mal so, dass wir es hier nicht mit einer exakten Wissenschaft zu tun haben. Es gibt so viel, was wir noch nicht verstehen.« Iversen klopfte Jon auf die Schulter. »Aber du befindest dich in guten Händen, Jon. Sobald wir merken, dass etwas schiefläuft, stoppen wir das Ganze.«
»Aber bitte brecht die Séance nicht ab, bloß weil ich mal die Augenbraue hochziehe«, bat Jon. »Ich bin bereit, es durchzustehen, auch wenn es wehtut.«
»Warten wir’s ab, Jon. Warten wir’s ab.«
In diesem Augenblick klopfte es. Beide drehten sich
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