Die Bibliothek der Schatten Roman
Windmühle beschrieben wurde, spürte er, wie die rotierenden Flügel die Luft hinter dem weißen Nebel zerschnitten.
Diese Entdeckung veranlasste ihn, sich beim Lesen noch mehr auf die Schatten zu konzentrieren, und in dem Augenblick, als der Protagonist nach einem Mühlenflügel schlug, zersplitterte die weiße Scheibe in tausend Scherben und gab den Blick auf die Szenerie dahinter frei.
Jon zuckte zusammen, aber die Lesung ging im gleichen Tempo weiter, auch wenn die Worte nun vor der Szene mit dem Protagonisten und der Mühle unwirklich in der Luft schwebten wie die Untertitel eines Films. Nur dass es jetzt umgekehrt war und das geschriebene Wort die Bilder vorantrieb. Jon spürte sein Herz und den Puls schneller schlagen.
Die Lesung ging unverdrossen weiter, er hatte keinen Einfluss darauf und genoss die Bilder, die dadurch entstanden. Sie wurden immer klarer, je mehr er las, und schließlich kam der Punkt, an dem er das Gefühl hatte, selbst in die Landschaft hineintreten zu können, die hinter dem Text sichtbar wurde. Die Farben der Bilder waren satt und klar, wirkten aber ein wenig künstlich wie in einem am Computer nachkolorierten Schwarz-Weiß-Film. Dann war es plötzlich so, als wäre die Kontrasttaste der Fernbedienung kaputt: Die satten Farben flossen wie Wasserfarben in einem Malbuch ineinander, und die Konturen der Figuren verschwammen. Er versuchte, den
Vorgang aufzuhalten, indem er intensiv die unscharfen Grenzbereiche fokussierte. Er spürte einen leichten Widerstand, wie wenn man an einem verrosteten Griff dreht, erkannte dann aber, dass er die Schärfe der Bilder wie bei einer Kamera einstellen konnte. Verblüfft spielte er mit dieser neuen Möglichkeit. Er ließ die Szene verschwimmen, bis sie in dichtem Nebel verschwand, und stellte sie dann so messerscharf ein, dass die Figuren wie mit dem Skalpell ausgeschnitten vor ihm standen. Auf die gleiche Weise ließ sich auch die Farbgebung steuern. Er konnte es heller oder dunkler werden lassen und entscheiden, ob er die Szene in warmes, gelbes Licht tauchen wollte. Wie ein kleines Kind probierte er alle möglichen Einstellungen, Extreme und Kombinationsvariationen aus. Bei manchen Einstellungen spürte er Widerstand, aber wenn er sich stark genug konzentrierte, konnte er die Schwelle überwinden und erreichte genau die Atmosphäre für diese Szene, die er wollte.
Auch die Geschwindigkeit, in der er las, hatte eine Bedeutung. Las er langsam, hatte er mehr Zeit, die Szene emotional und stimmungsmäßig zu gestalten. Eine höhere Lesegeschwindigkeit ließ keine Zeit für feine Abstufungen und beschränkte die Wirkung auf wenige, dafür umso heftigere Gefühle. Wenn Jon schnell las, stieg sein Puls, sein Herz schlug kräftiger und nicht ganz regelmäßig, und er kam ins Schwitzen wie bei körperlicher Anstrengung. Er wollte ausprobieren, wie schnell er lesen konnte, aber wieder hielt ihn etwas zurück und bremste ihn aus, so dass er die Skala nicht bis zum Anschlag austesten konnte. Leicht irritiert begann er, abgehackt zu lesen, als wollte er mit einem Rammbock alle Hindernisse aus dem Weg räumen. Da ging plötzlich ein Ruck durch seinen Körper, eine Riesenhand schloss sich um ihn und hielt ihn mit eisernem Griff fest. Er wollte sich befreien, doch der Griff wurde fester, je mehr er sich wehrte, als hätte sich eine Würgeschlange um ihn geschlungen. Er sah keinen anderen Ausweg,
als das Lesetempo massiv zu drosseln. Der Klammergriff lockerte sich trotzdem nicht, bis er schließlich das Gefühl hatte, keine Luft mehr zu kriegen.
Jon brach die Lesung ab.
Taub für alles, was um ihn herum geschah, schloss er die Augen. Sein Kopf kippte vornüber. Erst nach etlichen Sekunden nahmen seine Sinne wieder die Eindrücke aus dem Keller auf.
Zuerst kamen die Geräusche, ganz langsam, als würde jemand die Lautstärke aufdrehen. Es klang nach Tumult, er hörte Schritte und Möbel, die verrückt wurden. Aufgeregte Stimmen redeten durcheinander, aber er verstand nicht, was sie sagten, irgendetwas knisterte laut über seinem Kopf. Dann kamen die Gerüche. Er roch Rauch, der beißende Gestank von brennender Wolle und Plastik stieg in seine Nase und weitete seine Nasenflügel. Jon schlug die Augen auf.
Der Anblick, der sich ihm bot, war so unwirklich, dass er zunächst dachte, er träume oder befände sich noch mitten in der Geschichte. Der Raum war mit Rauch gefüllt, die meisten Kerzen waren umgefallen. Der Sessel links von ihm war umgekippt, und aus den
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