Die Bibliothek der verlorenen Bücher
Kindheit verschlungen hatte, bezeichnete Charles Brockden Brown als Genie. Poes Erzählung »The Pit and the Pendulum« (»Die Grube und das Pendel«) ist wahrscheinlich durch die Höhlenszene in »Edgar Huntly« inspiriert, Details in »William Wilson« und »A Tale of the Ragged Mountains« (»Im Felsengebirge«) verweisen ebenfalls auf Figuren und Motive aus Browns Werk. Doch der Ruhm des Jüngeren sollte die Leistungen seines Meisters bald in den Schatten stellen. Von Brown blieb nur eine Stimme aus der Dunkelheit, deren Einfluss zunächst kaum spürbar war und die dennoch – wie die Einflüsterungen des Bauchredners Carwin – eine unterschwellige Wirkung entfaltet hat.
Mr. Goulds Meisterwerk
J oe Goulds monumentales Werk »Eine erzählte Geschichte unserer Zeit« ist eines der interessantesten Bücher, das in der Phantasie seines Autors, aber vermutlich nicht auf dem Papier existierte. Seine Legende wurde 1942 durch einen Artikel des Journalisten Joseph Mitchell auch außerhalb der New Yorker Künstlerszene bekannt.
Mr. Gould gehörte dreißig Jahre lang zum unverzichtbaren Inventar der Bars und Cafés von Greenwich Village. Er schlug sich mehr schlecht als recht durchs Leben, sammelte bei Freunden, Künstlern und Touristen »Spenden«, um sich ganz seiner literarischen Arbeit widmen zu können. Er tauchte gern uneingeladen auf Partys auf, wo er über die Sprache der Möwen dozierte und mit lautem Geschrei einen Möwentanz aufführte, bis er mit einer kleinen Abfindung für seine Mühen von den Gastgebern hinauskomplimentiert wurde. Mitchell und allen, die es hören wollten, erzählte er von seinem großartigen Buch. Es sei elfmal so lang wie die Bibel und mindestens so bedeutend wie Prousts »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« oder Joyces’ »Ulysses«. Gould schleppte in seiner Aktentasche ein paar Schulhefte mit sich herum, die Teile seiner »Erzählten Geschichte« enthielten. Mit Hilfe seiner Freunde gelang es ihm sogar, einige Auszüge zu veröffentlichen. Das komplette Manuskript habe er an verschiedenen geheimen Orten in New York versteckt und bei gewissen Personen seines Vertrauens hinterlegt.
Die autobiographischen Skizzen, die Gould in seinen Heften notiert hatte, und die Geschichten, die er überall erzählte, geben nur vagen Aufschluss über seine Herkunft, sein Leben und den Ursprung seines Werks. Geboren wurde er offenbar am 12. September
1889 in Boston. Sein Vater und sein Großvater waren angesehene Ärzte, und der kleine Joseph sollte so früh wie möglich in ihre Fußstapfen treten. Doch als er eines Tages in Ohnmacht fiel, während er beobachtete, wie die Köchin einem Huhn den Hals umdrehte, ahnte er, dass er das ihm bestimmte Medizinstudium nie abschließen würde. Bedrückt durch die offen zur Schau gestellte Verachtung seines Vaters und ohne wirkliches Ziel, begann er ein Literaturstudium in Harvard, das er 1911 mit dem »Bachelor of Arts« abschloss. Noch immer wusste er nicht, was er mit seinem Leben anfangen sollte. Vier Jahre später war es nicht anders, aber immerhin konnte er sich dank der finanziellen Unterstützung seiner Mutter dazu aufraffen, einen Sommerkurs in eugenischer Feldforschung zu belegen. Nach den Wochen im Eugenik-Archiv in Cold Spring Harbor auf Long Island absolvierte er ein Praktikum, das ihn nach North Dakota führte, wo er die Köpfe der Indianer vermessen wollte. Nach erfolgreicher Untersuchung von fünfhundert MandanIndianern im Fort-Berthold-Reservat und tausend Chippewas im Turtle-Mountain-Reservat ging ihm das Geld aus, und er musste heimkehren. Zu Hause erfuhr er, dass sich sein Vater durch zwielichtige Spekulationen ruiniert hatte.
Joe Gould konnte sich nicht mit dem Gedanken abfinden, einer ganz gewöhnlichen Tätigkeit nachzugehen. Er beschloss, sich in New York niederzulassen, wo er eine literarische Karriere beginnen und sich mit Theaterkritiken über Wasser halten wollte. Er brauchte einen bequemen Posten, der ihm Zeit ließ, Stücke, Gedichte, Lieder, Essays und gelegentlich einen wissenschaftlichen Aufsatz zu verfassen. Schließlich bekam er einen Aushilfsjob bei der »Evening Mail«. Bei der Arbeit stieß er zufällig auf ein Zitat von William Butler Yeats, das ihm nicht mehr aus dem Kopf ging: »Die Geschichte einer Nation findet nicht in den Parlamenten und auf den Schlachtfeldern statt, sondern darin, was die Menschen an normalen Tagen und an Festtagen zueinander sagen, und darin, wie sie das Land bestellen,
Weitere Kostenlose Bücher