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Die Bibliothek des Zaren

Die Bibliothek des Zaren

Titel: Die Bibliothek des Zaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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oben ein ausdrucksvolles Zischen:
    »Ts-ts-ts-ts. Das muss doch nicht sein, oder?«
    Aus der Selbstverteidigung wurde also nichts – der vermaledeite Giwi verstand sein Handwerk zu gut. Er konnte nichts tun und sich nirgends verstecken, Nicholas war in einer staubigen Gruft eingesperrt, wo ihm ein altes Skelett und drei frisch Verstorbene Gesellschaft leisteten.
    »Guten Tag, Nikolai Alexandrowitsch«, begrüßte der unsichtbare Gabunija den in die Enge getriebenen Magister. »Wie viele Abenteuer Sie heute erlebt haben! Wenn Sie schon da unten sind, dann lassen Sie uns doch mal gucken, wofür so viele Leute ihr Leben haben lassen müssen. Entsetzlich – das ist ja wie bei der Schlacht mit den Kumanen! Na, was für einen Schatz haben Sie denn da?«
    »Na schön«, dachte Nicholas, »das ist doch gar kein so fürchterliches Ende. Ein bisschen früh, ja, aber das liegt wohl in der Familie. Eigentlich ist es sogar human vom Großen Sosso, dass er mir Todgeweihtem die Möglichkeit gegeben hat, erst meine Neugier zu stillen. Ist das nicht der Sinn des Lebens: seine Neugier stillen, ein Geheimnis lüften und dann sterben?«
    Die salomonische Philosophiererei des armen Magisters hing damit zusammen, dass er plötzlich todmüde war. Also wirklich, wie lange sollen Psyche und Nervensystem denn auch das extreme Schwanken zwischen Verzweiflung und Hoffnung aushalten können? Er hatte sich darauf eingerichtet, durch die Hand des Witzbolds Schurik zu sterben, und war gerettet worden. Dachte, er empfange den Tod vom Oberst, diesem Verräter, und wieder war der Kelch an ihm vorübergegangen. Aber nur vorläufig, nicht endgültig. Nun gab es wirklich keinen Funken Hoffnung mehr.
    Ohne irgendwelche Erklärungen und erst recht ohne Bitten um Schonung, hob Fandorin schweigend die Taschenlampe auf und trat zu dem vermoderten Bast. Er zog ihn beiseite und war sprachlos.
    Auf dem Erdboden lag ein großes Buch mit einem selten schönen Silberbeschlag, in den gelb-rot-braune Steine eingelegt waren. Das Silber war im Lauf der Zeit schwarz geworden, aber die geschliffenen Edelsteine – und davon gab es Hunderte – funkelten und schillerten im Licht.
    »Ach, schade, dass ich keinen Fotoapparat dabeihabe«, ließ sich die hingerissene Stimme des Großen Sosso vernehmen, die von der Decke kam. »Was für ein Bild!«
    Nicholas öffnete vorsichtig den schweren Buchdeckel und sah das pergamentene Titelblatt mit den verblichenen (einst sicher goldenen) handgeprägten griechischen Buchstaben:
    ????????
    ??????????
    Furcht und Begeisterung erfüllten die Seele des Magisters, der in diesem faszinierenden Augenblick sowohl die auf seinen Rücken gerichtete Mündung als auch die schrecklichen Ereignisse der letzten Stunde und den drohenden baldigen Tod vergessen hatte.
    Dieses Buch hatte Cornelius von Dorn in der Hand gehalten! Was kann denn so Schreckliches an einem antiken mathematischen Traktat sein? Warum beschwört Cornelius in dem Brief seinen Sohn gleich zwei Mal, den Folianten nicht anzurühren? Nun wird sich das Geheimnis lüften. Was für ein Glück, dass das Manuskript auf haltbarem Pergament und nicht auf Papier geschrieben worden ist!
    Er drehte das Blatt um und schrie auf. Die anderen Seiten waren leider nicht aus Pergament und noch nicht einmal aus Papier, sondern aus Papyrus. Durch die unsachgemäße Aufbewahrung waren sie völlig verwest, sie hatten sich in Mulm verwandelt! Der Text war unwiederbringlich verloren!
    Nicholas beugte sich dicht, ganz dicht darüber. Durch ein von der Zeit gefressenes Loch waren ein paar intakte Zeilen zu sehen. Althebräische Schriftzeichen?
    Hingerissen rückte der Magister das Buch näher an die auf dem Boden liegende Taschenlampe heran, und das ausgetrocknete Papyrus-Rechteck, das seine Form offenbar nur bewahrt hatte, weil es nicht bewegt worden war, zerfiel in ein Häufchen Staub. Übrig blieben nur der Beschlag und das Titelblatt aus Pergament, die offenbar beide in späterer Zeit dem Buch hinzugefügt worden waren.
    Nur ein einziges Buch? Nicholas blickte sich enttäuscht um. Und wo war die ganze Liberey?
    Aus dem Erdboden, wo gerade eben noch das Buch gelegen hatte, ragte ein Stück Holz oder irgendeine Wurzel. Sonst nichts. Absolut nichts.
    »Alles klar«, dachte Fandorin verzagt, »Cornelius war natürlich nicht besonders gebildet – wieso sollte sich auch ein Hauptmann der Musketiere mit Büchern und schwierigen Wörtern auskennen? Er hatte nur eine vage Vorstellung vom Sinn des Wortes

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