Die Bienenhüterin - The Secret Life of Bees
dem anderen Prügelknaben.
Während dieser Woche wurden weder mein Vater, der ja angeblich bei einem Traktorunfall gestorben war, noch meine verschollene Tante Bernie erwähnt. Die Schwestern des Sommers hatten uns einfach bei sich aufgenommen.
Als Erstes kümmerten sie sich um Kleidung für Rosaleen. Augusta stieg in ihren kleinen Laster und fuhr zum Wohltätigkeitsladen, wo sie für Rosaleen vier Unterhosen, ein hellblaues Nachthemd, drei sackartige Kleider mit hawaiianischen Mustern kaufte und einen Büstenhalter, der eine ganze Hügellandschaft hätte verhüllen können.
»Das is’ aber nich’ geschenkt«, sagte Rosaleen, als Augusta die Kleider vor ihr auf dem Küchentisch ausbreitete. »Das zahl ich zurück.«
»Du kannst es ja abarbeiten«, sagte Augusta.
May kam mit Zauberhasel und Wattebällchen herein und begann, Rosaleens Wunde zu säubern.
»Du bist ja ganz grün und blau geschlagen worden«, sagte sie, und kurz darauf fing sie wieder an, in ihrem wahnwitzigen Tempo »O Susanna« zu summen.
June wandte sich vom Tisch ab, wo sie die Einkäufe begutachtet hatte. »Du summst dein Lied ja schon wieder«, sagte sie zu May. »Warum ziehst du dich nicht ein wenig zurück?«
May legte den Wattebausch hin und verließ das Zimmer. Ich sah Rosaleen an, und sie zuckte ratlos mit den Schultern. June reinigte die Wunde dann selber; aber es war ihr zuwider, das konnte ich daran sehen, wie sie ihren Mund zu einem schmalen Spalt verzog.
Ich ging hinaus, um May zu suchen. Ich wollte ihr sagen: Ich singe »O Susanna« mit dir, von der ersten bis zur letzten Strophe, aber ich konnte sie nicht finden.
May war es gewesen, die mir das Lied vom Honig beigebracht hatte:
Stell einen Bienenkorb auf mein Grab,
Auf dass ich mich an Honig lab.
Bin ich erst tot und fern von hier
Dann wünsch ich nur das eine mir.
Die Straßen des Himmels sind voller Licht,
Doch vom güldenen Honig lasse ich nicht.
Stell einen Bienenkorb auf mein Grab,
Auf dass ich mich an Honig lab.
Ich mochte das Lied, weil es irgendwie albern war. Außerdem fühlte ich mich beim Singen so wie ein ganz normaler Mensch. May sang das Lied in der Küche, wenn sie Teig ausrollte oder Tomaten schnitt, und Augusta summte es, wenn sie Etiketten auf die Honiggläser klebte.
Wir lebten von und für Honig. Wir schluckten einen Löffel am Morgen, um wach zu werden, und einen am Abend, um besser einzuschlafen. Wir aßen Honig zu jeder Mahlzeit, zur Beruhigung, zur Kräftigung und zur Vorbeugung gegen schwere Krankheiten. Wir trugen ihn auf unsere Haut auf, um Verletzungen zu desinfizieren oder aufgesprungene Lippen zu heilen. Honig kam in unser Badewasser, unsere Hautcreme, unseren Johannisbeertee und den Kuchen. Nichts, wozu nicht Honig gereicht wurde. Schon nach einer Woche wurden meine dünnen Arme und Beine runder, und mein sonst so krauses Haar lag in seidigen Wellen um meinen Kopf. Augusta sagte, Honig sei die Ambrosia der Götter und das Shampoo der Göttinnen.
Ich verbrachte die meiste Zeit mit Augusta im Honighaus, während Rosaleen May im Haushalt half. Ich lernte, wie man ein Messer, das zuvor über Wasserdampf erhitzt wird, über den Entdeckler führt und die Wachsversiegelung von den Waben löst und wie man sie dann richtig in die Schleuder einsetzt. Ich regulierte die Flamme unter dem Dampfgenerator und wechselte die Nylonstrümpfe aus, die Augusta benutzte, um den Honig im Setztank zu filtern. Ich lernte so schnell, dass sie sagte, mit mir wäre es ein wahres Wunder. Das waren ihre Worte: Lily, mit dir ist es ein wahres Wunder.
Am liebsten füllte ich Wachs in die Kerzenformen. Augusta benutzte ein Pfund Wachs pro Kerze und verzierte sie mit getrockneten Veilchen, die ich im Wald sammelte. Sie betrieb sogar einen Handel über Postversand bis in so entlegene Orte wie Maine und Vermont. Dort wurden so viele ihrer Kerzen und so viele Honiggläser gekauft, dass sie mit der Arbeit kaum nachkam. Für ihre besonders guten Kunden gab es Dosen mit Schwarze-Madonna-Allzweck-Bienenwachs. Augusta sagte, es würde Angelschnüre leichter und Knopfgarn stärker machen, Möbel würden damit glänzen und klemmende Fenster und Türen wieder gleiten, und unreine Haut machte es so glatt und strahlend wie einen Babypopo. Bienenwachs war die Wunderkur für und gegen alles.
May und Rosaleen verstanden sich von Anfang an blendend. Wann immer ich in die Küche kam, standen sie Seite an Seite an der Spüle mit Maiskolben in den Händen, die sie vor lauter
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