Die Bienenhüterin - The Secret Life of Bees
wirklich?«
»Nun, ja und nein«, sagte sie. »Weißt du, Lily, manche Dinge geschehen im wörtlichen Sinne. Und andere Dinge, so wie das hier, geschehen im nichtwörtlichen Sinne, aber trotzdem geschehen sie. Verstehst du, was ich meine?«
Ich hatte keinen blassen Schimmer. »Eigentlich nicht«, sagte ich.
»Was ich sagen will, ist, dass die Bienen nicht wirklich die Worte aus dem Lukasevangelium gesungen haben, aber wenn man die Gabe hat, auf eine bestimmte Weise zu lauschen, kann man sein Ohr an einen Bienenstock legen und die Weihnachtsgeschichte in seinem eigenen Inneren hören. Dann kann man manches leise Ding jenseits der gewöhnlichen Welt wahrnehmen, das niemand sonst hören kann. Big Mama hörte der Welt auf diese Weise zu, aber meine Mutter, glaube ich, hatte diese Gabe nicht.«
Ich wollte unbedingt mehr über ihre Mutter hören. »Ich wette, deine Mutter hatte auch Bienen«, sagte ich.
Das schien sie zu belustigen. »Große Güte, nein, das wäre ihr niemals in den Sinn gekommen. Sie ging hier weg, sobald sie nur konnte, um bei einer Kusine in Richmond zu leben, und dort bekam sie eine Stelle in einer Hotelwäscherei. Erinnerst du dich, dass ich dir erzählt habe, dass ich in Richmond aufgewachsen bin? Nun, mein Vater stammt von dort. Er war der erste farbige Zahnarzt in Richmond. Er hat meine Mutter kennen gelernt, als sie einmal mit Zahnschmerzen in seine Praxis kam.«
Ich saß eine Weile ruhig da und dachte über die seltsamen Wege des Schicksals nach. Hätte sie keine Zahnschmerzen gehabt, gäbe es Augusta heute nicht. Oder May, oder June, oder den Honig der Schwarzen Madonna, und auch ich würde nicht hier sitzen und mich mit Augusta unterhalten.
»Mir gefiel es in Richmond recht gut, aber mein Herz war immer hier«, sagte sie. »Als ich Kind war, konnte ich es überhaupt nicht erwarten, hierher zu kommen und den ganzen Sommer über hier zu bleiben, und als Big Mama starb, hinterließ sie den ganzen Besitz mir, June und May. Ich lebe jetzt seit fast achtzehn Jahren hier.«
Das Sonnenlicht strahlte in das Fenster im Honighaus, manchmal flimmerte es ein wenig, wenn eine Wolke vorüberzog. Wir saßen eine Weile lang in einer goldgelben Stille und arbeiteten, ohne zu sprechen. Ich hatte Angst, all diese Fragen würden sie ermüden. Aber ich konnte mich nicht länger beherrschen. »Und was hast du in Virginia gemacht, bevor du hierher gekommen bist?«
Sie warf mir einen schelmischen Blick zu, der zu sagen schien: Liebe Güte, du willst aber wirklich alles wissen. Aber dann legte sie los, ohne beim Etikettenkleben auch nur ein klein wenig langsamer zu werden.
»Ich habe am College für Farbige studiert, weil ich Lehrerin werden wollte. June auch, aber es war schwierig, eine Stelle zu bekommen, denn es gab nicht viele Schulen, an denen Farbige unterrichten durften. Und so habe ich dann neun Jahre als Haushälterin gearbeitet. Schließlich habe ich dann aber doch eine Stelle als Geschichtslehrerin bekommen. Das habe ich sechs Jahre lang gemacht, bis ich dann hierher gezogen bin.«
»Und was war mit June?«
Sie lachte. »June - June würde nie im Leben eine Hand für Weiße rühren. Sie ging bei einem farbigen Leichenbestatter arbeiten und machte die Leichen zurecht, kleidete und frisierte sie.«
Das schien mir die passende Arbeit für sie zu sein. Mit Toten schien sie ja gut auszukommen.
»May hat erzählt, June hätte auch einmal fast geheiratet.«
»Das ist richtig. So vor ungefähr zehn Jahren.«
»Ich frage mich...« Ich brach ab, denn ich wusste nicht, wie ich sie fragen sollte.
»Du fragst dich, ob auch ich einmal fast geheiratet hätte.«
»Ja«, sagte ich. »Ich glaube schon.«
»Ich habe mich gegen das Heiraten entschieden. In meinem Leben gab es auch so schon genug Beschränkungen, da brauchte ich nicht auch noch jemanden, der sich von vorn bis hinten bedienen lassen will. Ich habe nichts gegen die Ehe, Lily, wirklich nicht. Ich habe nur etwas dagegen, wie es in der Ehe zugeht.«
Ich dachte bei mir, na, so geht es aber nicht nur in der Ehe zu . Schließlich hatte ich T. Ray ja auch von vorn bis hinten bedienen müssen, und dabei waren wir Vater und Tochter. Gieß mir’nen Tee ein, Lily. Putz meine Schuhe, Lily. Hol mir die Wagenschlüssel, Lily. Ich hoffte inständig, sie meinte nicht wirklich, dass es genauso in der Ehe weiter ging.
»Warst du denn nie verliebt?«, fragte ich.
»Verliebt zu sein und verheiratet zu sein, das ist etwas ganz anderes. Ich war einmal sehr
Weitere Kostenlose Bücher